Archiv der Kategorie: Zukunft

Und täglich grüßt…

… die Klimakrise. Nein, sie kommt nicht erst, sie ist schon da. Das tägliche „Murmeltier“ sind die Bilder von Naturkatastrophen, von brennenden Waldgebieten, von uns entgegen gurgelnden Wassermassen — nicht irgendwo, sondern hierzulande und gleichzeitig an vielen anderen Orten auf dem Globus. Das kann man nicht verharmlosen, das entspricht exakt dem, was Wissenschaftler seit den 1980er Jahren vorausgesagt haben, sofern nicht gegengesteuert wird.
Und? Wurde gegengesteuert? Hier kommt die Frage nach den Interessen ins Spiel. Diejenigen Konzerne, deren Geschäftsmodelle auf fossilen Brennstoffen basierten, die also Kohle, Öl und Erdgas verkauften und/oder weiter verarbeiteten, wollten weiter daran verdienen und hatten genug Geld, um Wissenschaftler zu kaufen, damit sie Zweifel an der vorhergesagten Klimakrise streuten, und sie bewogen einige Politiker dazu, sich den Zweiflern anzuschließen und diese Ansicht in vielen TV-Talkshows zu vertreten. So wurde das Gros der Bevölkerung verwirrt und daran gehindert, die Warnungen der Wissenschaft ernst zu nehmen. Und weil das so gut klappte, wurden diese Sedierungs-Kampagnen weitergefahren.
In den Nuller-Jahren des 21. Jahrhunderts sprach sich doch langsam herum, dass da was auf uns alle zukommt und man sich Maßnahmen überlegen müsste, z.B. die Reduzierung des CO2-Ausstoßes. Jene besagten Knilche in den Talkshows brachten dagegen vor, dass es wenig bringe, wenn nur ein Land voranginge und die anderen weitermachten wie bisher. Außerdem wurde bei jeder Gelegenheit vorgebracht, Deutschland erzeuge doch eh nur 2% der weltweiten CO2-Emissionen… (Das klang wenig, bezogen auf die absoluten Zahlen, verschwieg aber, dass wir, pro Kopf der Bevölkerung einen viel höheren Ausstoß haben und in der Spitzengruppe liegen.)
Kurzum, die Vernebelung der tatsächlichen Lage ging weiter, während manche PolitikerInnen clevere PR-Aktionen starteten, z.B. Bundeskanzlerin Merkel, die, begleitet von einem Troß von Kameraleuten und Journalisten, per Schiff vor Grönland aufkreuzte, denn die Öffentlichkeit hatte zuvor über die Medien erfahren, dass auch dort das beschleunigte Abschmelzen des Gletscher-Eises zu beobachten war. In den Medien wurde sie darauf schon als „Klima-Kanzlerin“ tiituliert.
Was aber unternahm „die Politik“, Bundes- und Landesregierungen, wirklich, um Klimaschutz zu betreiben? Während z.B. in Paris ein internationales Klimaschutz-Abkommen unterzeichnet wurde, das die globale Erwärmung auf 1,5 Grad begrenzen soll, geschah in Deutschland wenig, gemessen am vereinbarten Ziel. Die Regierung Merkel wurde vom Bundesverfassungsgericht dazu verpflichtet, ein Klimaschutz-Gesetz nachzubessern.
Doch was passierte in Sachen „Energiewende“? Bundes- und Landesregierungen fielen nicht durch Engagement auf, wenn es um den Ausbau alternativer Energien ging: Der Windkraft wurden jede Menge Steine in den Weg gelegt, und die Produktion der Solarstromtechnik wurde dermaßen stiefmütterlich behandelt, dass China die Chance ergriff und mit staatlichen Subventionen alternativlos billige Solaranlagen anbot, die die deutsche Produktion abwürgten.
Die Merkel-Regierung ließ sich von der Industrie auch dazu überreden, den Energiebedarf in großem Stil mit billigem Gas aus Russland zu decken. Wir erinnern uns ja alle noch an den Streit um die Gas-Pipeline „Nord Stream 2“. Im Nachhinein war es peinlich, dass niemand die Warnungen aus der Ukraine und den baltischen Staaten hören wollte. Deutsche Regierungen dachten, Putin sei in der Wirtschaft ein verlässlicher Partner wie früher die Sowjetregierungen.
Aber zurück zur Klimapolitik: Unter Merkel, man muss es so sagen, tat der Wirtschaftsminister alles, um die Energiewende zu torpedieren oder zu verzögern. Toll trieb es auch die bayrische Staatsregierung in Sachen Verhinderung. Noch heute muss man beispielsweise Windräder in Bayern mit der Lupe suchen. Aber ganz vorn dabei sind sie in Bayern, wenn es um die Bekämpfung und Kriminalisierung der Letzten Generation geht, die sich aus Verzweiflung über die lahme Klimapolitik öfter mal auf Straßen festklebt und den Verkehr zum Stillstand bringt. Dabei werden Ursache und Wirkung vertauscht: Die „Klimakleber“ werden kriminalisiert und verteufelt, aber wer redet davon, dass eine lahme oder ganz unterbleibende Klimapolitik in einem moralischen Sinne kriminell ist?
Der aktuelle Finanzminister Lindner und ein Teil seiner FDP fahren eine ähnliche Strategie: Schon die (noch zahmen) Demonstrationen der Bewegung Fridays for Future wollte man inhaltlich nicht ernst nehmen, argumentierte formaljuristisch (mit Verweis auf die Schulpflicht), Lindner selbst sprach ihnen sogar die Sachkompetenz ab. Das fand ich ignorant, denn Lindner schien keine Ahnung davon zu haben, was heutzutage in höheren Klassen auf dem Lehrplan steht. Wer mal einen Schulatlas durchblättert, der um 2015 erschienen ist, der stellt erstaunt fest: Hier geht es nicht mehr wie vor Jahrzehnten um Geografie und ein bisschen Wirtschaft, eher scheint es um viel Wirtschaft, viel Ökologie und ein bisschen Geografie zu gehen. Mein Fazit: Lindner hat sich da als jemand gezeigt, der auch mal forsch was behauptet, ohne Bescheid zu wissen.
Auf jeden Fall sind die (nicht nur jungen) Leute, die sich in Umwelt-Initiativen und politischen Bewegungen engagieren, nicht bloß emotional betroffen, sie haben außerdem Sachkenntnis und wissen meist, wovon sie reden. Solche Leute wünschen sich viele Parteien als Mitglieder, doch die meisten bleiben lieber außen vor, vielleicht weil sie als Parteimitglied Vieles nach außen vertreten müssten, was sie womöglich weniger gut finden.
In den TV-Nachrichten: schon wieder kleine Flüsse, die zu reißenden Strömen wurden, wieder brennen große Waldflächen an verschiedenen Orten des Globus… Hört das denn nicht auf? Wenn Ihr die Wahrheit vertragen könnt: Nein, es wird nicht aufhören, es kann höchstens noch schlimmer werden. Die Wissenschaft hat Euch das längst gesagt. Aber Manche wollen es nicht glauben, sind Meister im Verdrängen, auch wenn täglich das Murmeltier grüßt…
W. R.

Ein freies Land?

ES wird von staatlichen Stellen inklusive Geheimdiensten seit einiger Zeit davor gewarnt, dass aus dem Ausland — besonders aus Putins Russland und Xis China — Desinformation in die Köpfe unserer BürgerInnen gespült wird. Inzwischen dürfte Jede/r mal davon gehört haben, dass sich besonders in den „social media“ eine Menge Informationsmüll herumtreibt. Da reden wir noch gar nicht von den gezielten Hass- und Rufmordkampagnen.

Dieses unser Land ist also nicht frei — nicht frei von massiven Versuchen, seine BürgerInnen zu beeinflussen und auf falsche Fährten zu locken. Während aber Viele inzwischen ein wenig kritischer auf bestimmte Erzählungen und Verschwörungmythen schauen (was grundsätzlich zu begrüßen ist), fallen etliche Menschen immer noch gern auf Stimmen herein, die den Klimawandel verharmlosen oder leugnen.

Und obwohl es in den Medien Berichte darüber gab, dass einige interessierte Konzerne große Summen ausgeben, um den Klimawandel zu leugnen und eindeutige Ergebnisse der Wissenschaft in Frage zu stellen oder gar zu „widerlegen“, lassen sich davon immer noch viele Leute verunsichern oder behumsen und sagen sich: Och, das ist ja eh nicht klar, also rase ich weiter mit 190 km/h über die Autobahn, wo immer es geht.

Und dann haben wir da noch eine Partei in der derzeitigen Bundesregierung, die alles torpediert, was die Klimakatastrophe aufhalten könnte. Und besonders in Bayern wird die „Letzte Generation“ kriminalisiert, weil sie aus Verzweiflung über soviel Ignoranz in der Politik zu ungewöhnlichen Mitteln greift. Da sagen nun viele Leute: So nicht, sie sollten andere Mittel wählen. Ja, aber welche? Da ist Schweigen im Walde der KritikerInnen, denn die gewöhnlichen Mittel scheinen zu wenig zu bewirken, wie man sieht.

Woran liegt es, dass in der Politik trotz einer mitregierenden Grünen Partei nicht mehr für Klimaschutz getan wird? Das, was real beschlossen und getan wird, ist offensichtlich zu wenig.

Hier greifen wir nun auf eine Verschwörungstheorie zurück. Und ich muss gestehen: Im Gegensatz zu vielem Mist in den social media ist dies leider keine Fantasie und kein Mythos, keine bloße Theorie: Die ständige Infragestellung und Verwirrung ist beabsichtigt und Folge einer gezielten Strategie, die schon verfolgt wird, seit Wissenschaftler vor dem Klimawandel, wohlgemerkt: dem von Menschen verursachten (!) Klimawandel, warnen und ein Umsteuern empfehlen, fordern, inzwischen für dringend notwendig halten. Es geht darum, eine Klimakatastrophe zu verhindern, ehe die negative Spirale soweit gedreht ist, dass Kipppunkte erreicht sind und der Lauf der Dinge nicht mehr zu verlangsamen, geschweige denn aufzuhalten ist.

Eine Verschwörung von Leuten, die das Weiter-wie-bisher propagieren und jede Steuerung des Staates ablehnen, die von Freiheit reden und die Grünen ständig als „Verbotspartei“ diffamieren, an dieser Verschwörung sind eine Menge Leute beteiligt, weil ihr Geschäftsmodell auf ungehemmtem Verbrauch von fossilen Brennstoffen und anderen Rohstoffen basiert, weil also viel Geld mit dem Weiter-So verdient wird; und damit das so bleibt, pumpen sie Geld in die Medien- und die politische Landschaft, damit ihre dem Profit dienende Meinung verbreitet und in der Politik beachtet wird.

Es geht hier nicht um Behauptungen, sondern leider um erschreckende Tatsachen. Ich kann Ihnen nur empfehlen, sich etwas Zeit und Ruhe zu nehmen und diesen Artikel zur Kenntnis zu nehmen: Klimaschutz: Die heimlichen Einflüsterer der FDP – Kolumne – DER SPIEGEL

Also: Wie frei ist dieses Land, wie frei können sich die Gedanken unserer BürgerInnen entfalten? Wie frei sind Sie, sich Ihre Meinung zu bilden?

Falls Sie glauben, das Geld der Weiter-So-Profiteure käme schon irgendwie allen zugute: Sicher ist nur, dass wir alle die steigenden Kosten bezahlen, die durch ungebremsten Klimawandel entstehen. Alle wissen, dass heftige Wetterereignisse sich häufen und obendrein noch heftiger werden. Auch da, wo wir nicht hinschauen, braut sich was zusammen: In fernen Eisregionen, in Permafrost-Regionen, in den Ozeanen… Wer nicht bewusst wegsieht und das alles ignoriert, dem muss längst mulmig geworden sein.

W. R.

Dies ist ein freies Land

Gestern gehört in meiner Stammkneipe am Tresen (vgl. 28.1.23, Einwurf am Tresen):


Jupp, erstmal ein Kölsch, und zapp mir gleich auch das nächste. Danke!

Sagt mal, liebe Bierfreunde, leben wir eigentlich schon im 21. Jahrhundert? Ich höre die Köpfe von Politikern im Fernsehen ihre Sprüche ablassen und komme mir vor wie in einer Vorstellung im Volkstheater des vorigen Jahrhunderts. Soviel Populismus von Leuten, die ihre Intelligenz dazu einsetzen, die Menschen im Lande dumm zu schwätzen! Leute wie Söder, Merz, Lindner und Konsorten haben in Hinterzimmern abgesprochen, mit welchen Vokabeln und Floskeln sie die Menschen verwirren, ablenken und für dumm verkaufen könnten. Beispiel: Atomkraftwerke brauchen wir angeblich weiterhin, sie liefern angeblich auch billigen Strom, sind auch gar nicht gefährlich, und mit viel Technologieoffenheit machen wir einfach weiter so, weil uns irgendwann neue Erfindungen von lästigen Problemen wie Atommüll-Endlagersuche und anderen befreien werden. Ja, Ihr müsst nur daran glauben!

„Technologie-Offenheit“ ist so eine nichtssagende Worthülse, mit der man Leute beruhigen und auf blühende Landschaften der Zukunft vertrösten will. Ich kann’s nicht mehr hören. Apropos Hören: Unsere PolitikerInnen von CDU/CSU, FDP und AfD wollen es auch nicht hören, dass das Weiter-So in der Politik uns auf einen Abgrund zufahren lässt. Sie hören einfach weg, wollen kein „Klima-Blabla“ hören, wie es Bundesverkehrsminister Wissing (FDP) neulich in einer Wahlkampfrede in Hessen sagte. Wenn das kein Skandal ist — aber stattdessen wird ein Trauzeuge zur Staatsaffäre, der sich nichts hat zu schulden kommen lassen… Dem Staat ist dabei kein Schaden entstanden, wohl eher im Gegenteil. Aber man darf eine Maut in den Sand setzen und Steuergelder zum Fenster hinaus werfen, alles nicht schlimm, wenn man von den Unionsparteien gedeckt wird. Wenn sie aber die Grünen attackieren, ist alles recht, was in den Medien aufgeblasen werden kann.

Jupp, schnell das nächste, ich muss mir dringend die Politik schön trinken!

Und wer wundert sich noch, dass die bundesweite Polizeiaktion mit Razzien gegen die „Letzte Generation“ ausgerechnet von einer Staatsanwaltschaft in Bayern ausging? Da ist rein zufällig Wahlkampf, Söder will ein Law-and-Order-Profil zeigen. Was hat der nicht schon alles für Profile gezeigt, wenn es um Wahlkampf und Kampagnen ging! Der macht einen Wind, davon könnten zig Windräder rund um die Uhr laufen — wenn es sie denn in Bayern gäbe!

Echt, Leute, ich find’s nicht mehr zum Lachen! Diese gezielte Dummschwätzerei verfängt bei zu vielen Leuten, wie man an diversen Wahlergebnissen sieht. Von Umfragen will ich gar nicht reden, die werden auch am liebsten dann zitiert, wenn man den Grünen schwindenden Rückhalt in der Bevölkerung nachsagen kann.

Ist doch kein Wunder: Wir sind alle für Klimaschutz, tönen sie. Aber wie macht man das in der Praxis? Ha, schon zerreden die Bedenkenträger alles, was Sinn machen könnte, und im Zweifel wollen sie schon im Voraus wissen: Das lehnt die Mehrheit der Bevölkerung ab. So kommen wir nicht weiter — und genau das ist ja beabsichtigt.

Da ist es doch kein Wunder, dass besonders die junge Generation (soweit sie nicht vor lauter Daddeln am Handy nichts mehr mitkriegt) die Geduld verliert, denn es geht ja gerade um ihre Zukunft! Jetzt zeigt der Staat auf einmal Härte, will sich nicht auf der Nase herumtanzen lassen. Das, liebe Leute, hätte ich mir schon viel früher an ganz anderer Stelle gewünscht.

Ach, Jupp, noch eins.

Ja Prost, Hannes, auch wennste neulich FDP jewählt hast. Kannste machen, dies ist ein freies Land. Und dir persönlich nehme ich das nicht übel, jeder hat eben seine Meinung. Trotzdem stoße ich mit dir an, du bist ja sonst ein netter Kumpel. Ja, soweit käme es noch, dass wir uns wegen der Politik anfeinden und aus dem Weg gehen. Außerdem sind wir hier in Köln, da heißt das Motto: „Drink doch ene met, stell dich net esu aan…“

(Während er singend das Glas hob und die anderen Gäste ansah, fielen sie nacheinander ein und sangen mit.) —

[Das Gespräch wurde sinngemäß wiedergegeben, aufgezeichnet aus dem Gedächtnis von W. R.] — Dazu empfehle ich die Lektüre dieses Kommentars: >Razzia gegen die »Letzte Generation«: Wie der Staat Radikalisierung befördert – Kolumne – DER SPIEGEL

Nachtrag am 29.05.2023: Was man kriminell nennt, und was nicht — das ist oft eine Frage der Deutungshoheit. Bei all dem Hickhack beschleicht mich die Frage: Wieviele Ahr-Flutkatastrophen, wieviele Dürren und Waldbrände braucht Deutschland noch, um zu begreifen, dass nur ein bisschen Klimaschutz nicht reicht? Und dass wir nicht endlos Zeit haben? Schauen wir nach Südeuropa, da wird deutlich, was Unterlassungen anrichten, die man schon kriminell nennen könnte: >Italien und Spanien: Warum die Extremwetter in Südeuropa ein Lehrbeispiel für für Politikversagen sind – DER SPIEGEL — Wenn nun jemand kommt und das Festhalten an fossilen Energieträgern als kriminell bezeichnet, fällt es mir schwer zu widersprechen… zumal wir mit dem Öl- und Gas- Verbrauch derzeit auch Putins Kriegsverbrechen indirekt mit finanzieren. Was, echt jetzt? Denkt mal drüber nach.

Hier noch eine aktuelle Ergänzung vom 11.06.2023: >Klimakrise: Die »Oh Shit«-Momente häufen sich – Kolumne – DER SPIEGEL

… nicht mehr tolerierbar

A LLE reden von Kolonialismus und meinen damit meist die Zeit, in der europäische Mächte nach Übersee ausgriffen und sich Gebiete auf anderen Kontinenten aneigneten, wobei sie deren Bevölkerung unterwarfen und bei Widerstand brutal dezimierten. Am Pranger dieses allgemeinen Geschichtsverständnisses stehen die „üblichen Verdächtigen“ wie Spanien, Portugal, Niederlande, England, Frankreich, Belgien, Italien und Deutschland, also in etwa die Mehrheit der west- und mitteleuropäischen Länder. Weniger oft werden in diesen Blick die USA einbezogen, die nicht nur einen großen Teil Nordamerikas unterwarfen, sondern auch in den Pazifik ausgriffen und sich in Lateinamerika in die Politik der unabhängig gewordenen Staaten einmischten, die US-Politiker als „unseren Hinterhof“ bezeichneten.
Bei alldem hatte bei uns fast niemand die Expansion Russlands nach Asien im Blick, die Unterwerfung der Völker Sibiriens und des heutigen Südrusslands.* Wie schon bei den Alten Römern wurde und wird in Russland die Erzählung verbreitet, man habe damit Kultur und Zivilisation in weniger entwickelte Gebiete gebracht.
Dieselbe Erzählung übernahmen auch die Briten, als sie von „the white man’s burden“ sprachen: Weiße bringen den Völkern anderer Hautfarbe die hochentwickelte Zivilisation der Europäer und heben diese so auf eine höhere Kulturstufe.
Wir alle wissen aber längst, dass es bei den „Entdeckungen“ und der darauf folgenden Aneignung von Kolonien nur um wirtschaftliche und machtpolitische Interessen ging. Widerstand von aufständischen „Eingeborenen“ dieser Länder wurde mit brutaler Gewalt gebrochen, auch das hatte schon Vorbilder im Römischen Reich.
Was wir derzeit an Putins Russland sehen, ist die Fortsetzung dieser imperialen Denkweise. Man konstruiert sich einen Anspruch auf Territorien benachbarter Länder: Man handelt zum Schutz angeblich unterdrückter russischer Minderheiten, und/oder man stellt historisch begründet frühere Grenzen wieder her — ungeachtet der längst veränderten Verhältnisse, und ungeachtet des Völkerrechts. Solche Gründe zog z.B. auch Hitler heran, um die Expansion des deutschen Reiches zu rechtfertigen und seiner Machtpolitik einen legitimen Anstrich zu geben.
Wir wissen auch: Solange Machtpolitik und territoriale Expansionwünsche die Köpfe von Regierenden beherrschen, kommt die Welt nicht zur Ruhe. Und solange es genügend einfältige Menschen gibt, die sich dafür und im Zweifel auch für Krieg motivieren und einspannen lassen, gibt es immer wieder bewaffnete Konflikte.
Ein Grundübel ist, dass immer wieder Menschen das Trennende betonen und dabei das Gemeinsame in Abrede stellen, sich also lieber abgrenzen als sich mit Anderen zusammenfinden. Da wird die Identität einer Gruppe, eines Volkes. einer Nation über das Trennende definiert, da wird ab- und ausgegrenzt, werden Unterschiede betont. Dabei wird bewusst vergessen: Unsere hauptsächliche Identität ist, dass wir MENSCHEN sind. Menschen sind soziale Wesen, die Gemeinschaft brauchen, die in Not menschliche Solidarität brauchen, die anderen Menschen zu helfen bereit sind. Diese Gemeinschaft betrifft die Menschheit insgesamt. Wer aber künstlich Grenzen zieht, Barrieren und Mauern errichtet, Menschen Hilfe verweigert, der zeigt sich selbst von einer unmenschlichen Seite. Wenn dann noch eine faschistische Grundhaltung hinzukommt, ist die nächste gewaltsame Auseinandersetzung nicht fern. Im Blog-Beitrag „Gibt es liebe Faschisten?“ vom 02.10.2020 können Sie Näheres dazu lesen.
Leider passiert so etwas oft schneller als gedacht. Ein Männlichkeits-Gewaltkult ist meist der Treiber, der zur Gewalt-Eskalation führt. Staaten, in denen ein nationalistischer Militarismus propagiert wird, befinden sich auch bald im Krieg mit Nachbarstaaten. China führt das derzeit vor mit mlitärischen Drohgebärden gegen Taiwan. China begründet sein Verhalten mit einem Wunsch nach „Wiedervereinigung“ mit einer „abtrünnigen Provinz“ (was historisch schräg ist, denn Taiwan war nie Teil des kommunistischen China), China missachtet auch den Willen der Bevölkerung Taiwans, die weiterhin lieber in einer Demokratie leben wollen, und China missachtet (wie Russland gegenüber der Ukraine) das Völkerrecht, das gewaltsame Verschiebung von Staatsgrenzen nicht zulässt.

Man muss Nationalismus heutzutage kritisch sehen, gerade nach den europäischen Erfahrungen des 19. und 20. Jahrhunderts, wo in vielen Fällen Nationalismus zu Kriegen geführt hat. Eine starre Vorstellung von Nationalstaat, in dessen Grenzen es nur ein Volk geben soll, führt automatisch zu Konflikten. Die Bevölkerung des Staates wird dann oft von Machthabern in ein Korsett eines erzwungen homogenen Staatsvolkes gepresst, Minderheiten passen nicht ins Bild und werden unterdrückt, benachteiligt, ignoriert, zur Assimilation an die Mehrheit genötigt. Doch ein Staatsgebiet ist normalerweise nie ein Gebiet, das nur von einem Volk mit einer gemeinsamen Sprache bewohnt wird. Insofern ist die Idee vom völkischen Nationalstaat weltfremd.

Außerdem: Künstlich auf der Landkarte gezogene Staatsgrenzen kann man nicht quasi abdichten, im Gegenteil: Ein Staatsgebiet ist an seinen Grenzen immer osmotisch, also offen für Austausch. Und Austausch von Waren und Ideen nützt meist den Menschen auf beiden Seiten der Grenze. (Darum ist die EU eine gute Sache. Und am Brexit sieht man, wie sich GB selbst ins Bein schießt. Trotzdem will uns die „patriotische“ AfD weismachen, wir sollten die EU verlassen…)

Man kann den Natonalismus begrifflich trennen vom Begriff Nation. Eine Nation ist in erster Linie eine große Menschengruppe, die sich einer Gruppe zugehörig sieht, sei es aufgrund einer gemeinsamen Sprache, Kultur, Geschichte, usw. Eine solche Nation ist historisch gewachsen und kann nicht plötzlich verordnet werden. Meist lässt sie sich an den Rändern aber auch nicht scharf abgrenzen, es gibt Überschneidungen zu Nachbar-Nationen, mit denen man einige Gemeinsamkeiten hat. Und genau darauf fußt z.B. die Idee eines Europa mit einer kulturellen und historischen, gemeinsamen Identität. Denn es ist leicht, das Trennende zu betonen, doch viel leichter ist es, Gemeinsamkeiten zu sehen und in Begegnungen festzustellen, wie wenig uns von den Nachbarn anderer Länder trennt.

Dagegen versuchen Nationalisten, das Trennende zu anderen Nationen als identitätsstiftend herauszustellen. Und sie konstruieren oft auch eine Erzählung oder einen Gründungsmythos, der sie von anderen Nationen als etwas Besonderes, Einzigartiges abheben soll.

Nationalisten in Europa wollen ein sogenanntes „Europa der Vaterländer“, d.h. alles beim Alten lassen, und ein politisches Zusammenwachsen Europas möglichst verhindern. Das war schon in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht mehr zeitgemäß, aber im 21. Jahrhundert sind solche Retro-Vorstellungen erst recht kontraproduktiv. Denn Europa kann in der Weltwirtschaft und Weltpolitik keine gestaltende Rolle spielen, wenn einzelne Staaten immer wieder aus gemeinsamer Politik ausscheren und ihr eigenes Süppchen kochen. Dabei verlieren diese Einzelstaaten ebenso wie Europa insgesamt.

Deshalb, wie gesagt, muss man Nationalismus heute kritisch sehen, in meiner Sicht sogar sehr kritisch. Denn neben den oben genannten Gründen muss man gegen Nationalismus auch anführen, dass Mächte wie China oder Russland ihn ganz gezielt einsetzen, um ein heterogenes Vielvölkerreich auf Einheit zu trimmen, Minderheiten zu drangsalieren und territoriale Ansprüche auf Nachbarstaaten zu stellen, wobei sie aufrüsten und ein militärisches Drohpotential aufbauen. All das dient nicht dem Frieden in der Welt, sondern dem egoistischen Machtstreben von Machthabern und ihren Regimen, die auch Gewalt und Krieg durchaus als legitime Mittel ihrer Politik sehen. Und all das, die ganze Aggressivität, dient angeblich dem Wohle dieser Nation — dafür wird unablässig Propaganda gemacht. Und wenn es doch Kritik im Lande gibt, werden Spannungen zu Nachbarstaaten erzeugt und im Inneren nationale Solidarität gegen den äußeren Feind gefordert — ein sehr altes Muster autoritärer Politik.

Wir sehen spätestens beim Blick auf die weltumspannenden Probleme wie die drohende Klimakatastrophe:

Diese Welt braucht nicht mehr Abgrenzung und Egoismus, sondern mehr Verständigung und Zusammenarbeit über alle Grenzen hinweg. Das gebietet nicht nur die Vernunft, das entspricht auch der Menschlichkeit und dem Wunsch der allermeisten ErdenbürgerInnen, friedlich zusammenzuleben.

Damit wir der Erfüllung dieses Wunsches näher kommen, muss in den Köpfen Vieler noch ein Wandel eintreten: Schluss mit dem Unfug von männlichen Machtfantasien, Schluss mit dem Aufhetzen von Menschen gegen Minderheiten, Schluss mit dem Unfug der unbegrenzten Ausbeutung von Menschen, Tieren und natürlichen Ressoucen, Schluss mit den falschen Rechtfertigungen von Ausbeutung und Unterdrückung durch religiöse oder rassistische Irrlehren.

Wenn in Afghanistan die Taliban-Machthaber Frauen unterdrücken und zu ungebildeten Sklavinnen degradieren wollen, wenn im Iran die Machthaber Religion als Hilfsmittel der Unterdrückung missbrauchen, wenn im Sudan zwei bewaffnete Machtgruppen aufeinander schlagen und dabei Land und Leute kaputt schießen, wenn in den USA der Schusswaffengebrauch die häufigste Todesursache von Kindern ist — in diesen und (leider) vielen weiteren Fällen müssen Menschen sich schämen, wenn sie das tolerieren und für „normal“ halten wollen.

Denn das ist der (angeblichen) Krone der Schöpfung nicht würdig, es ist unter Niveau des (selbsternannten) Homo Sapiens. Und das ist in unserer Zeit überhaupt nicht mehr tolerierbar.

W. R.

* Mehr dazu > Ausstellung in NGbK Berlin zu jahrzehntelangem Kolonialismus in Russland und seiner Verarbeitung in der Kunst


Atomkraft?

Es ist vollbracht! Nach dem Kreuzestod Jesu ist — angesichts des Gedöns in deutschen Medien — wohl das Abschalten der drei letzten Atomkraftwerke im Staate D. das bewegendste Ereignis der Geschichte, oder? Kaum zu glauben, was interessierte Akteure für ein Aufhebens machen, um Stimmung gegen den Atomausstieg zu schüren.
Dabei ist Allen, ja wirklich: Allen in diesem Lande seit geraumer Zeit klar, dass das Ende der Atomkraft in Deutschland seinen gesetzlich geregelten Gang nimmt. Und dass die kurzfristige Verlängerung der Laufzeit von drei AKWs für wenige Monate als Notmaßnahme beschlossen wurde, um einen vielleicht möglichen Strom-Engpass im Winter zu vermeiden.
Wenige Atomkraft-Befürworter machen einen großen Lärm darüber, dass es unvernünftig sei, die deutschen AKWs ganz abzuschalten, und schüren die Angst vor möglichen zukünftigen Blackouts. Hört man die unaufgeregten Experten, dann ist diese Angst nicht begründet.
Aber zum Thema „Angst“ fällt mir ein: Europas größtes AKW bei Saporischschija in der Ukraine ist von russischen Truppen besetzt, immer wieder kommt es dort zu krisenhaften Situationen. Man fürchtet, in diesem AKW könnte es durch Beschuss oder infolge der von Kriegseinwirkungen mangelhaften technischen Kontrolle zu einem GAU kommen. Dieser wäre eine Katastrophe, die die von Tschernobyl (1986) noch toppen würde.
Wer hier gar neue AKWs fordert, muss erklären, wie gerade jetzt sichergestellt werden könnte, dass es einem Putin nicht einfällt, ein paar Hyperschall-Raketen auf die deutsche Infrastruktur zu schießen und dabei gezielt AKWs zu Atombomben umzufunktionieren.
Über einen solchen (zum Glück noch theoretischen) Fall hört man hierzulande nichts. (Vielleicht, weil noch immer viele Leute Putins Charakter und Ziele verkennen.)
Davon abgesehen, bleibt es bei der sachlichen Feststellung: AKWs sind die mit Abstand teuerste Form der Energiegewinnung, und im Unglücksfall auch die gefährlichste.
Wer mit dem (Schein-) Argument kommt, weltweit würden doch immer mehr AKWs gebaut, und der „deutsche Sonderweg“ führe unnötig ins Abseits, der unterschlägt, dass einige Länder auch schon den Atomausstieg planen, andere verbissen an Bauvorhaben festhalten, die sich sehr in die Länge ziehen und viel teurer werden als vorab geplant (Wir reden hier von Milliarden-Beträgen).
Inzwischen ist vielen Leuten auch klar geworden: In diesen Zeiten ist es nicht verantwortbar, die eigene Energieversorgung zu einem bedeutenden Teil von auswärtigen Mächten abhängig zu machen, sprich: Brennstäbe für AKWs aus Ländern wie Russland zu beziehen, die womöglich einmal die Lieferung verweigern und politische Bedingungen stellen.
Wer weiß, ob nicht bald Erdogan oder Orban dafür gescholten werden, dass sie ihren Ländern diesen Bärendienst erwiesen haben…
Ganz durchsichtig und schon fast eine Kabarett-Nummer ist die Einlassung einiger deutscher Politiker, unsere AKWs seien doch aktiver Umwelt- und Klimaschutz, während die in der Energie-Krise wieder hochgefahrenen Braunkohle-Werke sehr klimaschädlich sind. Söder und andere mutieren plötzlich zu Umwelt-Aktivisten, die die Grünen überholen?? Das glaubt den Windrad-Verhinderern doch kein Mensch, der eine Krempe am Hut hat!
Fazit: An der Bewertung der Atomkraft hat sich seit Langem nichts geändert: teuer, riskant. Wer hier stur für eine andere Bewertung trommelt, hat entweder viel Geld in dieser Sache stecken oder wird von der Lobby dieser Leute mit Worten und evtl. Geld gedrängt. (Ich wünschte, sie hätten vor Jahren nur halb so viel dafür getrommelt, die Produktion von Solaranlagen im Lande zu halten!)
Ich möchte jedenfalls nicht, dass die Leute, die uns erst in die Gazprom-Abhängigkeit getrieben haben, uns nun aus Eigennutz in neue Abhängigkeiten manövrieren. Darum: Atomkraft? Nein, danke!
W.R.

Ein Update vom 10.07.2023: Wer bisher dachte, Desinformations-Kampagnen würden nur aus dem Ausland (Russland, China, Nordkorea) initiiert und gelenkt, der darf jetzt zur Kenntnis nehmen, dass auch hier in Deutschland einflussreiche Akteure solche Kampagnen lostreten: Die „Bild“-Zeitung gab den Ton vor, und nach ihr stießen eine Reihe von PolitikerInnen der Oppositionsparteien kräftig ins selbe Horn. Bis in die Fernseh-Talkshows tragen sie die Falschbehauptungen von „Bild“.

Worum geht es dabei? Um die Energiepolitik, und um deutsche Atomkraftwerke, denen einige PolitikerInnen immer noch nachweinen. Sie betätigen bei jeder Gelegenheit die Drehleier vom angeblich „dringend benötigten Atomstrom“ — wohl wider besseres Wissen, bzw. infolge einseitiger Information, die bei „Bild“ teils auf handfesten Lügen basiert.

Von „Bild“ ist die Nation ja so manche schräge oder einseitig CDU-lastige Berichterstattung gewöhnt. Aber was da gerade in Sachen Energiepolitik abging, das hat schon das Etikett „Fake-News“ verdient. mehr >Energieversorgung: »Bild«, Union und AfD, vereint in Prepperfantasien – Kolumne – DER SPIEGEL

Update von Februar 2024: Energiepolitik: Atomkraft ist ein totes Pferd – warum steigt Merz nicht ab? Kolumne – DER SPIEGEL

Fortschritt auf Deutsch

Was läuft schief in Deutschland? Mein Eindruck: eine ganze Menge!
Wo soll ich anfangen, wo aufhören mit der Aufzählung? Ich kann nur ein paar Dinge herausgreifen, ehe ich atemlos pausieren muss.

1. Energiepolitik: Inzwischen ist es schon ein Gemeinplatz, dass unser Land viele Jahre lang sehenden Auges in die Abhängigkeit von russischen Gas gesteuert wurde. Die Leute am Steuer sind in der Bundesregierung seit Ende 2021 abgelöst. Das heißt aber nicht, dass jetzt eine große Kurskorrektur stattgefunden hätte, vielmehr sind die Widerstände enorm. Das zeigte sich jüngst (gegen Ende März ’23) bei der Krisensitzung der Ampel-Regierung: Retro-Anliegen wurden von FDP und SPD begünstigt, obwohl sich diese Koalition zu Beginn „Fortschritts-Koalition“ nannte. Die Grünen bekamen nicht mehr als ein Trostpflaster dafür. Ist das überhaupt eine Regierung, die dem Klimaschutz Priorität einräumt? Oder was will sie mit diesem Gewurschtel erreichen, vielleicht ein Weiter So und dabei fortschrittlich reden?
Und was ist mit der Opposition, welche Perspektiven bietet die CDU? Mir schrillen noch die Ohren von einer Aussage des sächsichen Ministerpräsidenten Kretschmer (CDU) in einer Talkshow vor wenigen Tagen, als er forderte, man müsse die Gas-Pipeline Nord Stream 1 als Option bestehen lassen — für evtl. zukünftige Geschäfte mit Russland. Wann denn? Nach Putin? Wer kann sagen, dass dann die Lage eine wesentlich andere wird? Der russische Staatshaushalt wird jedenfalls bisher hauptsächlich von Einnahmen aus dem Export fossiler Energieträger gespeist.
2. Schulpolitik: Da ist, ähnlich wie in der Energiepolitik, seit vielen Jahren trotz mancher Absichtserklärungen wenig unternommen worden, um die offensichtlichen Mängel zu beheben oder wenigstens zu reduzieren. Da Bildung bei uns Ländersache ist, haben wir ein zusätzliches Problem durch einen Flickenteppich schulpolitischer Maßnahmen. Ich erinnere nur an das Kind, das nach einem Umzug in ein anderes Bundesland meist neue Schulbücher braucht und z.T. andere Vorausssetzungen für den Schulabschluss erfüllen muss. Dann die Misere mit vielen maroden Schulgebäuden! Zuständig sind dafür die Schulträger, das sind meist Städte und Gemeinden. Da werden ganz verschiedene Prioritäten gesetzt, meist je nach Finanzlage. Unter dem Strich schaut man auf die Gesamtsituation und fragt sich: Wieviel sind uns unsere Kinder wirklich wert? In Deutschland liegen die Ausgaben für Bildung — man glaubt es kaum — unter dem Durchschnitt der EU-Länder. Was läuft da grundsätzlich schief? In Fensterreden wird dieses Land immer als eins der Techniker und Ingenieure, des technologischen Erfindergeistes etc. gelobt. Doch der Nachwuchs wird nicht in der Breite gefördert. Das hatten wir schon mal in den 1960er Jahren, als man erkannte, dass das bestehende Schulsystem die Begabungsreserven in der Bevölkerung nicht ausschöpfte und nur den Nachwuchs der eh schon Gebildeten oder Bessergestellten förderte. Mit anderen Worten: Unser Bildungssystem hemmt den Nachwuchs, benachteiligt Kinder aus bildungsfernen Milieus und lässt Deutschland international langfristig zurückfallen.
3. Verkehrspolitik: Seit wievielen Jahrzehnten ist die Eisenbahn Stiefkind der Politik, wird dem Auto und dem Straßenbau gegenüber der Schiene Priorität gegeben! Der Automobilwirtschaft zuliebe wurden — und werden — immer neue Autobahnen gebaut, die angeblich das Volk will. Das Volk will aber neben Mobilität auch eine intakte Natur und Wälder, keine Flut- und Dürrekatastrophen, und eine erträgliche Lebenswelt für Kinder und Enkel. Also, liebe PolitikerInnen, denkt nicht nur in Wahlperioden, bedient nicht nur eure StammwählerInnen, übernehmt Verantwortung für das ganze Land und seine Zukunft — nicht immer nur in Fensterreden, sondern in konkreten Maßnahmen mit sichtbaren Ergebnissen.
So, diese drei Bereiche müssen hier genügen, sonst werde ich depressiv. Zum Eigenschutz sehe ich mir schon kaum noch eine Talkshow mit Politikern im Fernsehen an. Ich kriege schon fast das Kotzen, wenn Einer von der FDP wieder einen Wortbrei von sich gibt, in dem die Zutaten „Freiheit“, „keine Verbote“, „Technologie-Offenheit“, „technischer Fortschritt“, „Vernunft“ u.a. nicht fehlen dürfen. Das ist Wortgeklingel, das sich gut anhören soll, aber die wahren Absichten verschleiert. (Mehr dazu auch im voraufgegangenen Beitrag „Keine Angst!(?)“ )

Ich kann den Satz „Wir sind ein reiches Land“ nicht mehr hören, wenn ich in unseren Städten immer mehr Obdachlose sehe, und wenn ich sehe, wie unser Land mit der Bildung und den Bildungschancen für Kinder umgeht. Eigentlich, dachte ich, stellt den Kanzler derzeit eine Partei, die das Soziale als ihren Markenkern bezeichnet. Müsste da nicht mehr passieren? Von der SPD hört man in Sachen Umwelt- und Klimaschutz auch nicht mehr viel. Gibt die FDP als kleinster Koalitionspartner hier die Richtung vor? Bleibt alle Sorge um Klimaschutz und sozialen Fortschritt bei den Grünen, die dann von FDP und SPD ausgebremst werden? Diesen Eindruck könnte man gewinnen. Ich hoffe sehr, dass sich dies nicht bestätigen wird!

(4.) Und lasst mich nicht noch ein weiteres Fass aufmachen und von der deutschen Bürokratie anfangen! Schon vor Jahren forderten einige Politiker in Wahlkämpfen gern „Bürokratie-Abbau.“ Man hört aber wenig davon, eher von Bürokratie, die die Wirtschaft hemmt oder in sturer Vorschriftenhuberei dafür sorgt, dass im Zweifel (aus formalen Gründen) die Falschen aus Deutschland abgeschoben werden (nämlich gut integrierte Fachkräfte, die unser Land dringend braucht).

Diese Eindrücke lassen mich bedrückt resümieren: Dieses Land steht sich mit alten Gewohnheiten z.T. selbst auf den Füßen.

(5.) Zu den alten Gewohnheiten zähle ich derzeit auch die für Viele scheinbar selbstverständlichen Denkweisen über Friedenspolitik und Militär, die aus einer Zeit stammen, in der man in Westdeutschland gefahrlos „Frieden schaffen ohne Waffen!“ fordern konnte, denn man durfte sich unter dem atomaren Schutzschirm der USA ausgeprägten Pazifismus leisten; den konnte man zusätzlich begründen mit militaristischen, unheilvollen Phasen der jüngeren deutschen Geschichte. Und die allgemeine Wehrpflicht schien im 21. Jahrhundert auch entbehrlich.

Seit Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine erleben wir, wie schwer sich viele Menschen tun, ihr Weltbild wie auch konkret ihre Sicht auf das Militärische der veränderten Realität anzupassen. Das ist auch nicht so einfach, es erfordert eine differenzierte Betrachtung von Fragen der Gewalt, der militärischen Rüstung, der internationalen Politik. Und Kanzler Scholz (SPD) scheint da sehr viel Rücksicht auf Friedensbewegte in seiner Partei zu nehmen. Das wäre ja nicht schlecht, wenn wir nicht den 24.2.2022 erlebt hätten und die brutalstmögliche Kriegführung durch Russland. Aber nun…!

W. R.

Nachtrag am 30.04.2023 zur Energiepolitik: Über die zahlreichen Versuche interessierter Leute, uns, die Bevölkerung (nicht nur in Sachen Atomkraft) dumm zu schwätzen, lässt sich ausführlich dieser Artikel aus: Klima-Verzögerungstaktik: Was Springer, Schäffler, Spahn und Wagenknecht gemeinsam haben – DER SPIEGEL

Man kann nach diesen Überlegungen verstehen, dass manche Menschen hierzulande von Lobbykratie statt Demokratie sprechen, wenn sie auf das parlamentarische System schauen. (Das heißt nicht, dass es anderswo nicht noch schlimmer ist, z.B. in Großbritannien).



Keine Angst! (?)

WÄHREND die meisten Menschen auf dem Globus ihrer Arbeit nachgehen — oder Arbeit suchen — oder auf der Suche nach genießbarem Trinkwasser lange Wege gehen — oder ihren Feierabend mit einem Bier vor dem Fernseher genießen — oder Hunger leiden — oder vor Krieg und Bandenkämpfen auf der Flucht sind — oder an einer Küste auf eine Chance warten, mit einem überladenen Schrott-Boot ein sicheres Land mit besseren Lebensbedingungen zu erreichen — beschäftigen einige Andere sich damit, Künstliche Intelligenz zu erschaffen und diese auf die Welt loszulassen.

Muss man vor Künstlicher Intelligenz alias KI Angst haben? Sollte man sich auf Chancen der Menschheitsbeglückung durch KI freuen?

Dazu gibt es bereits kluge Einlassungen und lange Artikel, die uns das Pro und Kontra vortragen. Einer kann hier als Beispiel angeklickt werden: Künstliche Intelligenz: Die Rückkehr des Wunderglaubens – Kolumne – DER SPIEGEL

Meine persönliche und einstweilige Meinung: Das ist ein selbstlernendes System, es kann sich schnell in eine nicht gewünschte Richtung entwickeln. Also muss man Kontrollsicherungen einbauen — inklusive die Möglichkeit, das System abzuschalten oder zu zerstören.

Der Film „2001 — Odyssee im Weltraum“ (1968) führte uns im Kino schon vor Jahrzehnten vor Augen, was passieren kann, wenn allzu große Technikgläubigkeit Dinge schafft, die dem Menschen die Kontrolle entwinden. In jenem Film ist es der umfassend befähigte Bordcomputer des Raumschiffs, der unerwartet Befehle verweigert und die Kontrolle über das Raumschiff übernimmt. Da wurde das Problem schon vorweggenommen, das uns mit der KI ins Haus stehen könnte (oder wird?).

Heutzutage ist ja fast alles vorstellbar, z.B. auch (angesichts der Begehrlichkeit von autoritären Regierungen, die totale Kontrolle über alles zu haben) die Aneignung einer KI-„Maschine“ durch eine Macht, die die globale Kontrolle anstrebt.

Schon lange vor dem o.g. Film gab es die Ballade vom Zauberlehrling, der „die Geister, die ich rief“, nicht mehr beherrschen konnte… Diese Warnung existierte also schon, als der zunehmende wissenschaftlich-technische Fortschritt die industrielle Revolution in Gang setzte*, und lange, bevor wir die digitale Revolution unserer Lebenswelt erlebten.

Die Frage ist, ob es interessierten Gruppen (das sind die, die darin Geld investieren und mehr Geld erwirtschaften wollen) gelingt, die öffentliche Meinung so zu beeinflussen, dass die Menschen falschen Erzählungen glauben und gegen ihre eigenen Interessen den profitorientierten Gruppen freie Hand lassen.

Gegenwärtig sehen wir z.B. den Einfluss von Lobby-Verbänden am Werk, die die Energiewende behindern, die das Aus für Atomkraft in Deutschland rückgängig machen wollen, die (besonders zur Freude Putins) den Abschied von fossilen Energieträgern (Öl, Gas) verzögern und möglichst vereiteln wollen. In den Medien wird ein Informationskrieg geführt, bei dem Leute von „Vernunft“ sprechen, die alles möglichst beim Alten lassen wollen. Diese Art von Vernunft verharmlost den Klimawandel und seine immer stärker sichtbaren Folgen, versucht die Gemüter zu sedieren, verschweigt dabei die Konzeptlosigkeit für die Zukunft, wirft aber ständig mit Worthülsen wie „Technologie-Offenheit“ um sich und verschleiert die Verantwortungslosigkeit gegenüber unseren Nachkommen.

Diese Sorglosigkeit der Konzernlenker (um noch ein paar Milliarden mehr zu scheffeln) und Diktatoren (Putin ist die Umwelt in Russland und anderswo völlig egal) kann Einem schon Angst machen. Gerade ist der Iran dabei, nach chinesischem Vorbild die Überwachung der Bevölkerung auszubauen (mit zahlreichen Kameras mit Gesichtserkennung). Wenn bald auch noch KI hinzukommt, um die Menschen noch viel effektiver zu täuschen und zu unterdrücken… **

Wir kannten die Egomanen mit Allmachtsfantasien und Streben nach Weltherrschaft bisher eher aus James-Bond-Filmen. Nun stellt sich heraus, dass ein paar Großmannssüchtige das tatsächlich versuchen. Putin will ein großrussisches Imperium erobern, China die Weltmacht Nr. 1 werden, und daneben strampeln noch ein paar Diktatoren der zweiten Liga danach, ihre Macht mit allen Mitteln zu sichern und auszubauen. Allen ist gemeinsam: Menschen sind bloß Nummern und austauschbar, einzigartig ist (nach seiner Selbst-Einschätzung) nur der Diktator.

Fazit: Die Entwicklung neuer Techniken und Technologien ist weder gut noch schlecht, es kommt wesentlich darauf an, wer sie in die Hände bekommt und mit welchen Absichten verwendet. Mir persönlich reicht schon der Hinweis auf die „social media“ des Internet, um mir ein flaues Gefühl im Magen zu machen. Wo bleibt da die Informationsfreiheit, wenn Google und Andere ihre Algorithmen nicht offenlegen? Und was sollen wir noch für wahr halten, wenn uns erst die KI alles Unmögliche als Wahrheit vorgaukeln kann?

W. R.

* Goethe schrieb die Ballade 1797, in einer Zeit, als die Industrielle Revolution in England einsetzte. Wer sie nachlesen möchte, klicke hier: Johann Wolfgang von Goethe – Das Gedicht ‚Der Zauberlehrling‘

** Dazu ein Update vom 02.05.23, das zeigt: Meine Bedenken sind nicht nur meine > Die Gefahren von KI: Warum Geoffrey Hinton Google verlässt – Wirtschaft – SZ.de

An ihren Taten…

DIE zunehmende globale Klimaveränderung wächst sich in einigen Regionen bereits zur Katastrophe aus, Jede und Jeder weiß es — bis auf ein paar hartnäckige Leugner, die stur-besserwisserisch die Erkenntnisse der Wissenschaft ignorieren und sich lieber in Verschwörungsfantasien verlieren… und dazu ein paar geistige Tiefflieger, die nur glauben, was sie zu sehen glauben, nämlich dass die Erde eine Scheibe sei und Sol mit dem Sonnenwagen tagsüber über den Himmel fährt.
So einen Sonnenwagen, befeuert mit E-Fuels, malt uns unser derzeitiger Verkehrsminister Wissing (FDP) an den Himmel und will uns das als Alternative zur Abschaffung der Verbrenner-Motoren in Autos verkaufen. Sein Motto: Was schert mich Europa, wenn ich ein parteipolitisches Süppchen kochen kann!
Ich habe besonnene und gut informierte Leute reden hören, wie sie im Gespräch fragten: Ist dieser Verkehrsminister noch bei Verstand? In einer Wahlkampfrede in Hessen bezeichnet er alle Kritik an seinen Plänen als „Klima-Blabla.“ Geht’s noch verbohrter? Ist dieser Minister überhaupt politikfähig, oder muss man gar noch schlimmere Defizite befürchten?
Und seine Partei, die FDP? Selbst den meisten Porsche- und SUV-Fahrern, so sie bei Verstand sind, muss dieser Mann langsam unheimlich werden. Ich verzichte auf ausführliche Begründung, es genügen die Stichworte Tempolimit, Autobahnausbau, DB. Wissings Markenzeichen ist das Geisterfahren gegen Klimaschutz, gegen Empfehlungen der Fachleute, und gegen EU-Beschlüsse.
Die FDP soll sich bloß nicht erdreisten, sich als gute Europäer darzustellen. Ich erinnere mich an einen Europa-Wahlkampf zur Zeit der rot-grünen Schröder-Regierung, in dem die FDP Plakate klebte mit dem Slogan: „Denkzettel für Berlin!“ Ich war entgeistert darüber, wie unverfroren da eine Wahl für das Europaparlament missbraucht wurde, um innerdeutsche Stimmung gegen die Bundesregierung zu machen: Das wollen aufrechte Demokraten sein? dachte ich. Die sind doch bloß populistisch unterwegs und nutzen mangelnde Kenntnisse in der Wählerschaft für egoistische Zwecke, anstatt sie über den Sinn dieser Wahl aufzuklären.
Das ist Schnee von gestern? Für mich nicht. An ihren Taten sollt ihr sie erkennen, danach beurteile ich PolitikerInnen und Parteien. Wissing hat sich soeben in Brüssel als Saboteur einer europäischen Einigung gezeigt, die schon ausgehandelt war (was in Europa oft mühsam genug ist).
Wer wundert sich angesichts solcher Politik darüber, dass die „Letzte Generation“ nicht aufhört, sich auf belebten Straßen festzukleben? Es würde aber treffsicherer wirken, wenn sie sich z.B. an die Dienstwagen von Wissing und Lindner klebten. Denn die bisherigen Aktionen mögen zwar mediale Aufmerksamkeit sichern, aber Einiges erscheint mir nicht so zielführend, wie es im Furor der Weltrettung beabsichtigt ist.
Leider hatten wir in letzter Zeit mehrere närrische Verkehrsminister, die das Ressort für egoistische Parteipolitik genutzt haben statt für das Gemeinwohl. Ist das der Preis für ein Demokratie-System, das auf Parteien setzt und im Zweifel auf Koalitionsregierungen, die durch Kompromisse zustande kommen? So scheint es, und in anderen Staaten mit einem demokratischen System läuft es nicht unbedingt besser.
Churchill sagte: „Demokratie ist die schlechteste Regierungsform…“ Und irgendwann fügte er hinzu: „Aber ich kenne keine bessere.“ Den Fans von autoritären Regierungen bzw. Diktaturen kann ich nur raten: Schaut Euch die Sache vom Ende her an. Ein Putin, der davon träumt, Russland zu alter historischer Größe zurückzuführen, führt Russland in den Niedergang. Ein Hitler, der größter Feldherr aller Zeiten sein wollte, ließ Deutschland verkleinert und in Trümmern zurück. Beide sorgen dafür, dass ihr Volk einen hohen Blutzoll zahlt — und für was?

Dabei haben wir, die Völker dieser Welt, doch ganz andere Probleme, die weder durch Krieg noch durch Wegsehen, sondern nur durch internationale Zusammenarbeit gelöst werden können. Aber solange die falschen Leute auf wichtigen Posten sitzen, muss man befürchten, dass wir viel zu langsam an Lösungen herangehen. Dem alles überschattenden Klimaproblem ist mit halbherzigen Maßnahmen nicht beizukommen. Wir sehen das doch fast täglich in den Nachrichten. Und das Problem wächst rasant, während manche Leute immer noch Volksverdummung spielen und wichtige Maßnahmen ausbremsen.

W. R.

In Sachen „Verbrenner“ und Energiepolitik lesen wir Deutliches in diesem Beitrag vom 19.02.2023: Konservative Energiepolitik: Mit Vollgas in die falsche Richtung – Kolumne – DER SPIEGEL

Was der Klimawandel für Europa bedeutet (das sich im Vergleich zu anderen Kontinenten besonders stark erwärmt), zeigt z.B. diese Meldung: Spanien hat Angst vor der Sonne – DER SPIEGEL

Das geht in die Geschichte ein

DAS Jahr 2022 neigt sich dem Ende zu, und wir sind sicher, dass man sagen kann: Dieses Jahr wird in die Geschichte eingehen.

Wir machen hier jetzt keinen Jahresrückblick, aber zumindest das Datum 24. Februar fällt uns sofort ein. Das war der Tag, an dem Möchtegern-Eroberer-Zar Wladimir Putin einen unnötigen und ungerechtfertigten Krieg begann, indem er in das Nachbarland Ukraine einmarschierte und glaubte, mit Propagandalügen und vielen russischsprachigen Sympathisanten im angegriffenen Land einen schnellen Sieg einfahren zu können.

Doch es kam anders, denn die „ruhmreiche Rote Armee“ war offenbar längst Vergangenheit. Putin selbst lebt ja in seiner Gedankenwelt in einer Vergangenheit, die längst vorbei ist, ihm aber als Orientierungshorizont dient. Deshalb hat er im Jahr 2021 und schon davor in öffentlichen Verlautbarungen sehr stark auf Geschichte zurückgegriffen. In seiner Sicht war die Annexion der Krim (2014) eine „Wiedervereinigung“, und die beabsichtigte Eroberung der Ukraine die Zerschlagung eines Un-Staates, den es in seiner Sicht nicht geben durfte (erst recht nicht nach der politischen Wende hin zu mehr Demokratie). Die Ukraine, hieß es, sei immer Teil Russlands gewesen. Doch tatsächlich ist diese Interpretation historischer Verhältnisse umstritten, denn aus den Macht- und Abhängigkeitsverhältnissen im Mittelalter (Kiewer Rus) lassen sich nicht so einfach ethnische oder territoriale Zugehörigkeiten für die heutige Welt ableiten.

Wie auch immer, man kann ja in Allem immer etwas Anderes sehen und einen Vorgang der Geschichte anders interpretieren, als er nach allgemeingültigen Kriterien beurteilt wird. Welche „historische Wahrheit“ sich durchsetzt und allgemein anerkannt wird, ist manchmal eine Machtfrage.

Aber Macht allein kann auf Dauer nicht garantieren, dass krasse Verleugnung und Verfälschung von Geschichte nicht doch erkannt und publik gemacht wird.

Als nach Stalins Tod (1953) Nikita Chruschtschow eine Teil-Entstalinisierung begann und von Stalins Verbrechen sprach (1956), da brach für stalintreue Kommunisten nicht nur in der Sowjetunion eine Welt zusammen. Stalin wurde erstmals als der gesehen, der er war: Ein Massenmörder, der über Berge von Leichen hinwegging. Und doch wollten ihn Viele weiterhin als das verehrte „Väterchen Stalin“ sehen und weiter dem Personenkult huldigen, der Stalin so lange erstrahlen ließ.

Unter Putin wurde die Aufarbeitung der Vergangenheit unter Stalin nach Kräften zurückgedreht: Die Arbeit einer Organisation namens „Memorial“, die Verbrechen der Stalin-Ära untersucht, wurde zunehmend behindert, schließlich ganz verboten. Warum? Das könnt Ihr Euch selbst denken.*

Und was hat Putin in diesem Jahr erreicht? Zwei Dinge: 1. Er hat in einer Fehleinschätzung der Realität sein Militär vor den Augen der Welt in eine Blamage geführt, die den Nimbus einer „siegreichen Sowjetarmee“ vergessen lässt. 2. Er hat die Ukraine, eine angeblich nicht-existierende Nation, zu patriotischen Widerstand gedrängt und sie in kurzer Zeit zu einer wirklichen Nation zusammenwachsen lassen.

Zum konstituierenden Mythos der ukrainischen Nation wird in Zukunft gehören, dass sie dem übermächtigen Nachbarn die Stirn geboten hat, der sie vernichten wollte. Damit hat Putin moralisch verloren.** Und dabei haben wir noch nicht einmal von Putins moralfreier, unmenschlicher Kriegführung gesprochen.

Zu letztem Punkt muss ich darauf aufmerksam machen: Die Welt, oder die Weltgemeinschaft, darf nicht zulassen, dass Putins Verhalten der neue globale Standard bei Konflikten wird. Sie darf nicht hinnehmen, dass ein Machthaber willkürlich einen Krieg vom Zaun bricht und, mehr noch, diesen Krieg mit zahllosen Kriegsverbrechen führt. Wenn die Gründung der UN damals Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg zog, dann ist es dringend nötig, Lehren aus den Kriegen Putins zu ziehen und eine Weltordnung zu etablieren, die als Konsequenz nicht nur Putins Regime verurteilt, sondern auch den Angriffskrieg als solchen erneut ächtet – wie das schon in den Nürnberger Prozessen gegen das Nazi-Regime geschah.

Moralisch ist das keine Frage, politisch muss es durchsetzbar sein und auch durchgesetzt werden. Und wenn es nicht anders geht, dann muss Putins Russland eben eine Niederlage einstecken und zum Frieden genötigt werden. Wie sonst, bitte schön, soll denn diese Welt ein Stück friedlicher werden? Wir haben außerdem noch andere Probleme zu lösen, von denen leider Putins Zaren-Nostalgie die Welt ablenkt. Das kommt noch zusätzlich auf sein Konto: Statt zum Fortschritt im Sinne der Menschheit beizutragen, verursacht er Chaos und Rückschritt. Damit ist seine Rolle in der Geschichte auf jeden Fall schon negativ vorgemerkt.

S. R.

P.S. Die Verbrechen Stalins betrafen die Ukraine unmittelbar: Er ließ große Mengen Getreide beschlagnahmen und ins Ausland verkaufen, um Devisen für den geplanten Aufbau der Schwerindustrie einzunehmen. Als Folge verhungerten mehrere Millionen Menschen nicht nur in der Ukraine, wo dieses Verbrechen „Holodomor“ genannt wird. Ein Denkmal in Mariupol, das seit 2004 daran erinnerte, ließen die russischen Besatzer im Oktober abreißen — auch hier zeigt sich wieder der Kampf um die Deutung der Geschichte… Schon in der Sowjetunion wurde das Gedenken an den Holodomor unterdrückt.

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*mehr zu Memorial: Memorial (Menschenrechtsorganisation) – Wikipedia

** Hätte Putin sich nicht nur mit dem historischen Großrussland, sondern auch näher mit dem Zweiten Weltkrieg in Westeuropa befasst, dann wüsste er, wie Hitlers Bombenkrieg gegen England dort zum Mythos (The Blitz) des Widerstands- und Überlebenswillen erkoren wurde, die Nation stolz machte und so zum Durchhalten animierte.

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Nachtrag am 12.12.2022: Kaum war der obige Blog-Beitrag online gegangen, da sagte Putin seine übliche große Pressekonferenz zum Jahresende ab, die heute stattfinden sollte. Man könnte da einen Zusammenhang sehen, muss man aber nicht. So verhält es sich auch mit der einen oder anderen „historischen Wahrheit“, die vielleicht nur eine kühne Hypothese ohne Belege ist, aber trotzdem Gläubige findet — weil manche Leute eben einfach glauben wollen, was ihnen so schön ins Bild zu passen scheint. Ein Beispiel, das wir alle kennen: Donald Trumps Lüge von der „gestohlenen Wahl“, die noch immer bei vielen US-Bürgern verfängt.

Dieser Tage gab es eine große Polizei-Aktion gegen sogenannte Reichsbürger. Das sind Leute, die daran glauben wollen, dass dieser Staat keine Legitimation habe und das Deutsche Reich seit 1945 de jure weiter bestehe. Diese verrückt erscheinende Vorstellung könnte man als witzige Kabarett-Nummer verstehen, und so verstand ich sie, als ich in den Nuller-Jahren zum ersten Mal davon hörte. Inzwischen ist bekannt, dass viele Leute Gefallen an dieser Vorstellung gefunden haben und — das ist der Knackpunkt — ernsthaft glauben, mit dieser gedanklichen Konstruktion real Politik machen zu können.

Inzwischen haben diese Leute gemerkt, dass sie damit in der realen Politik keinen Blumentopf gewinnen können. Einige von ihnen wollen trotzdem nicht davon lassen und verlegen sich auf verschwörerische Umtriebe gegen diesen Staat, den sie mit oder ohne „Reichsbürgertum“ pauschal ablehnen. Konkret: Einige gehen so weit, dass sie reale Verschwörungen zum Sturz der Regierung und des demokratischen Systems planen, Waffen horten, „Feindeslisten“ schreiben, Einsatzpläne für den „Tag X“ ausarbeiten und sich in eine Machtübernahme nicht nur hineinträumen, sondern sie mit gewaltbereiten Leuten real in Szene setzen wollen.

Spätestens da muss auch ein demokratischer und im Prinzip toleranter Staat eingreifen. Wäre unser Staat ein autoritäres System, dann wären diese Möchtegern-Putschisten schon lange im Vorfeld verhaftet worden. In einem Staat wie z.B. dem gegenwärtigen Russland wären sie längst im Arbeitslager inhaftiert.

Wer unser demokratisches System erst gar nicht verstanden hat, der weiß auch wenig von den Grundwerten der Demokratie und läuft daher z.B. in einer Demo der Pegida oder der Verquerdenker mit. Da entblödeten sich fehlinformierte Menschen nicht, Schilder hochzuhalten, die von einer „Merkel-Diktatur“ kündeten. Auch das wäre allenfalls als Kabarett-Witz zu gebrauchen, wenn es diese Leute nicht tatsächlich ernst meinten.

Da werden Leute, die argumentieren wollen, von solchen Demonstranten niedergebrüllt — denn „man weiß“ ja längst, dass die alle bezahlte Marionetten des Systems sind und dass die Medien gleichgeschaltet und aus dem Kanzleramt gesteuert sind.

Das wiederum fand ich ausgesprochen lustig: Diese Leute, die sich von „Russia Today“ und anderen, von der Putin-Regierung finanzierten Kanälen bestens „informiert“ fühlten, beschrieben ein Bild, das eher auf Russland passte, aber von Putin als Bild hiesiger Verhältnisse in die Köpfe unserer Bevölkerung gesetzt werden sollte. Man will die Leute hier verunsichern, indem man frech die Tatsachen auf den Kopf stellt.

Dieses Propaganda-Schema findet man heute auch in den russischen Verlautbarungen über den Krieg gegen die Ukraine. Aber in einem Krieg wundert das nicht. Und, messerscharf geschlossen: Putin sah sich anscheinend schon vor 2022 im Krieg mit den westlichen Demokratien. Warum sonst finanzierte er soviel propagandistische Unterwanderung, warum finanzierte er schon lange viele rechtsradikale Parteien und Gruppierungen im Westen?

Wer verstehen will, wie Russland sich selbst sieht, und welche Erzählung über die Geschichte dieses Selbstbild begründet, der lese, was Orlando Figes in seinem Buch Eine russische Geschichte dazu schreibt. Seit Zar Iwan IV. dem Schrecklichen wird ein Mythos von der heiligen russischen Nation und dem „Sammeln russischer Erde“ gepflegt und Großrussland beschworen, Moskau als „Drittes Rom“ und Haupt der russisch-orthodoxen Kirche etabliert und in den Köpfen verankert.

Kein Wunder also, dass Putin den Schulterschluss mit der orthodoxen Kirche vollzogen hat (Wir erinnern uns z.B. an die Protestaktion von Pussy Riot in einer Moskauer Kirche 2012, für die die Teilnehmerinnen zu mehrjährigen Haftstrafen im Arbeitslager verurteilt wurden), kein Wunder auch, dass Patriarch Kyrill Putins Krieg gegen die Ukraine (auch aus kirchenpolitischen Gründen) unterstützt.

Und das Gros der Bevölkerung Russlands folgt der mythisch überhöhten Geschichtserzählung, die den Traum eines wiederhergestellten Großrusslands als historische Sendung preist — und dabei natürlich vom Selbstbestimmungsrecht der Völker oder gar von Demokratie nichts wissen will.

Wen überrascht da noch, dass andere Autokraten ebenfalls nostalgische Großreich-Träume wieder aufwärmen, z.B. Erdogan (Osmanisches Reich) oder Orban (ungarische Minderheiten in Nachbarstaaten „heim ins Reich“ holen). Wen überrascht, dass solche Autokraten auf Machtpolitik und Drohgebärden setzen und machomäßig Stärke zeigen — anstatt den Menschen diesseits und jenseits der Grenzen Ruhe, Frieden, Handel und Verbesserung ihres Lebensstandards zu ermöglichen durch friedlichen Austausch und Verständigung.

Die rückwärts orientierten Machthaber-Träume von Grenzverschiebungen und Annexionen schüren Konflikte, führen zu Unfrieden, betonen Trennendes zwischen den Menschen statt das Gemeinsame. Grenzen auf politischen Landkarten sind — so gesehen — etwas Gestriges, Antiquiertes, und sollten in unserer Zeit keine so große Rolle mehr spielen. Denn tatsächlich wird unsere Welt mit 8 Milliarden Menschen immer mehr zum „globalen Dorf“, in dem niemand mehr so tun kann, als ginge ihn/sie die anderen Menschen nichts an.

Grundsätzlich…

… muss jeder Mensch bei Verstand das so sehen. Aber ist der Homo Sapiens immer bei Verstand?

Wie schon im letzten Beitrag „Welt, quo vadis?“ mit guten Gründen dargestellt: Die Menschheit überlebt nur durch Zusammmenarbeit und Verständigung, durch friedlichen Austausch und Interessenausgleich.

Vergesst allen Unfug aus Opas Mottenkiste, in die z.B. ein Putin ganz tief hineingreift, vergesst Nationalismus, Macho-Wahn, Ehrenpusselei, etc. Sowas wirft uns zurück in gewalttätige Zeiten, in denen es auch nicht gepasst hat; nur lenkte es damals nicht, wie heute, von den Problemen ab, die aktuell die ganze Menschheit betreffen.

Wer heute noch Opas schädliche Parolen vertritt, der outet sich als denkfaul, oder als begrenzt zurechnungsfähig, weil er/sie den wahren Zustand dieser Welt nicht erkennt — oder nicht sehen will. Von wegen: Homo Sapiens, da lachen ja die Hühner!

Wer geistig nicht flexibel ist und sich an alte, unheilbringende Parolen und Konzepte klammert, dem sollte man kein politisches Amt anvertrauen, am besten auch kein anderes, wo er Unsinn verbreiten könnte. Das sollte, ja müsste wenigstens ab heute und in Zukunft gelten.

Fragt sich nur noch: Wie werden wir die Knallköpfe los, die unflexibel denken, die sich wie Dinosaurier an die Macht klammern, die lieber alles in Scherben schlagen, als sich zurückzuziehen und den Zukunftsorientierten, den Menschenfreunden das Steuer zu überlassen?

W. R.

Ergänzung am 17.08.2022:

Nun kommen sicher Leute mit Kritik daher, z. B.: Das ist doch alles zu wenig konkret. Ja Leute, waren Euch viele frühere Beiträge in diesem Blog nicht konkret genug? Lesen hilft! Da wurden Namen, Parteien und sonst wer benannt, die dem Fortschritt, wie er oben beschrieben ist, im Wege stehen, die sogar erklären, dass sie zurück in die Vergangenheit marschieren wollen, dass sie für Trennendes und Diskriminierung sind, dass sie gegen friedliches Miteinander sind, dass sie Leute gegeneinander hetzen wollen, Europa zurückversetzen wollen in Zeiten kriegerischer Konflikte und völkischem Zwist. Und wir wissen doch, wo und von wem immer noch Urwälder abgeholzt werden, wo bedrohte Tier- und Pflanzenarten gejagt und ausgerottet werden, wo weiter durch Autobahnen Naturräume zerschnitten und zerstört werden; dass ernsthaft die Ausbeutung von Rohstoffen in der Tiefsee geplant wird, dass viele ignorante Regierungen ihre Bevölkerung dumm halten und zuwenig über Umwelt-Bewahrung informieren (um ihnen stattdessen Halbwahrheiten über Arbeitsplätze und rauchende Schornsteine zu erzählen) … Menschenskinder, das konntet ihr schon längst in diesem Blog und/oder auf hier verlinkten Seiten lesen. Wenn Euch das nicht reicht, dann fehlt Euch der konkrete Wille, eine erträglichere Zukunft mitzugestalten, erträglicher als das, was uns bei einem „Weiter so!“ droht.

Denn inzwischen pfeifen es die Spatzen von den Dächern: Die schlimmen Folgen des durch Menschen beschleunigten Klimawandels erleben wir immer deutlicher. Was wir erleben wollen und sollten, ist eine deutliche, wirksame Abbremsung der globalen Erderwärmung, die derzeit noch an Fahrt aufnimmt. Wir hörten hierzulande Stimmen, die sagten: Es nützt doch nichts, wenn Deutschland etwas tut und andere Länder weltweit nicht mitziehen. Das waren die Stimmen des „Weiter so!“. Wir sehen aber, dass (leider noch zu langsam) immer mehr Regierungen (zumindest mit Worten) für Klimaschutz sind. Aber der Druck auf die Ignoranten wächst. Und es wächst die Zahl der Einsichtigen, die die internationale Zusammenarbeit fördern wollen.

Eines Tages werden sogar Figuren wie Putin einsehen müssen, dass die Menschheit weder durch Krieg positiv zu beeindrucken ist, noch ihn aus der Verantwortung entlässt, für sein Land wie für die Welt die gemeinsamen Interessen in den Vordergrund zu stellen. Das wird einem Putin schwer fallen, es sei denn, er sähe sich international isoliert oder sogar geächtet. Putin ist schlau genug, um seine Politik zu ändern, wenn sich immer weniger Leute belügen lassen und ihm der Verlust der Macht droht.

P.S. Wenn wir, dle Menschen alias der Homo Sapiens, eine Zukunft haben wollen, müssen wir konsequent handeln. Wir können uns halbherziges Taktieren, das möglichst niemandem weh tut, nicht mehr leisten. Wer jetzt noch glaubt, alles könne im Prinzip laufen wie bisher, der lebt in einer Traumwelt. Wer das den Leuten immer noch ernsthaft erzählen will, ist ein populistischer Dummschwätzer.

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