Archiv für den Monat: Oktober 2022

Das Gespenst der Freiheit

Halloween? Wer bitte braucht denn sowas? Allein die Nachrichten über Russlands Krieg gegen die Ukraine reichen völlig aus, uns das Gruseln zu lehren, da kommt kein Horror-Film mehr mit: barbarische Kriegführung wie im Mittelalter, enthemmte russische Soldateska plündert, foltert, mordet… Dazu kommen, wenn man mal hinhört, die abstrusen Propaganda-Behauptungen aus Russland, die völlige Verdrehung der Tatsachen, die entmenschlichende Darstellung des ukrainischen „Feindes“ in den Staatsmedien — das sind alles keine originellen Neuheiten, Viele historisch Informierte kennen das sattsam aus Kriegen der Vergangenheit.

Aber Putin lebt ja in den Vorstellungen der Vergangenheit, er will die Zeit zurückdrehen, will sich als neuer Zar in die Geschichtsbücher einschreiben. Außerdem kennt er keine menschlichen Rücksichten (wie einige Zaren und Stalin vor ihm), weder Rücksicht auf die eigenen Soldaten noch auf die Zivilbevölkerung im angegriffenen Land. Auf Petersburger Hinterhöfen hat er als Jugendlicher gelernt, dass nur Stärke, Brutalität und Täuschung das Überleben sichern. Dann hat er in seiner Karriere im KGB gelernt, dass zum Nutzen des eigenen Machtsystems alles erlaubt ist, und mit welchen Mitteln man Menschen gefügig machen kann. Im Übrigen zählen für ihn nur Männerfreundschaften und Seilschaften (bevorzugt mit alten Kumpeln vom KGB).

Wer so gestrickt ist wie Putin, ist nicht nur Macho, er verachtet auch Demokratie und ihre Kompromisse, die viele Menschen einbinden. Und er verabscheut die freie westliche Lebensweise, weil er die Menschen lenken, bevormunden, für seine Zwecke benutzen will.

Putin denkt beim Stichwort „Halloween“ an das Gespenst der Freiheit, das seine Herrschaft in Frage stellen könnte. Dieses Schreckgespenst fürchtet er genauso wie viele andere autokratische Machthaber, wo auch immer sie in ihren Machtzentralen sitzen und Krieg gegen die Freiheit führen, sei es in China, Myanmar, Iran, Saudi-Arabien, Ägypten, Syrien, um nur einige zu nennen (Ihr könnt die Liste erweitern).

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Es ist immer entlastend, mit dem Finger auf schlimme Dinge zu zeigen, die Andere verbrochen und zu verantworten haben. Wenn ich mal im eigenen Land bleibe, dann gruselt es mich auch vor manchen (vor allem braun gefärbten) Gespenstern. Aber gruseln kann man sich nicht nur mit Blick auf die Politik.

Beispiel: eine Meldung aus der Massentierhaltung. Da werden Masthühner gezüchtet, die soviel Fleisch ansetzen, dass sie fast wie eine Kugel anwachsen und sich kaum noch fortbewegen können. Der Begriff „Qualzucht“ ist da völlig zutreffend. Ansonsten bleiben Einem die Worte im Halse stecken. Es sind nicht nur die tierquälerischen Nerz-Farmen, die verboten gehören…

Wenn Alle immer sehen könnten, was Tieren aus Gewinnsucht angetan wird, würde der Fleischkonsum sicher drastisch sinken. Gar kein Fleisch mehr essen? So weit muss man nicht gehen. Den Tieren würde es schon bedeutend besser gehen, wenn statt täglich Billigfleisch nur noch 1-2mal pro Woche gutes bzw. Bio-Fleisch auf den Tisch käme. Fleisch von Tieren, die z.B. nicht mit Antibiotika vollgepumpt wurden. Aber das habt Ihr hoffentlich schon gehört. Dann zieht daraus die Konsequenz — auch für Eure eigene Gesundheit!

W. R.

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Nachtrag am 22.11.2022: Das Gespenst der Freiheit gibt es in anderer Form auch in unserem Land, hier allerdings als Übertreibung und egoistische Auslegung des Begriffs „Freiheit“. Viele Menschen scheinen in der Pubertät stehengeblieben zu sein und handeln nach dem Motto „Hauptsache: Dagegen!“ sowie „Ich zuerst!“ und „Mir schreibt keiner was vor!“ Was dabei völlig übersehen wird: Regeln und Vorschriften wurden hierzulande in der Regel nicht willkürlich erlassen, sie dienen auch nicht dem Ziel, Freiheiten einzuschränken und Leute zu ärgern.

Einfaches Beispiel: Bauvorschriften sehen Geländer an Treppen vor, die eine gewisse Zahl von wenigen Stufen überschreiten. Wozu das? Wer auf den Stufen fehltritt oder ausrutscht, zumal im Dunkeln, der findet im Zweifel Halt am Geländer und stürzt nicht (was vor allem bei älteren Menschen oft Knochenbrüche nach sich zieht). Diese Bauvorschrift dient also der Sicherheit und Gesundheit der Menschen. Wenn nun Einer daherkommt und sagt: Interessiert mich nicht, ich lasse mir keine Vorschriften machen, ich spare das Geländer ein — wie bewerten Sie ein solches Verhalten? Kann man das Ignorieren von Regeln und Verboten entschuldigen, weil Einer zu blöde ist, den Sinn zu erkennen?

Mir scheint, dass heutzutage eine Menge Menschen das Ignorieren und Brechen von Regeln total schick finden, dass sie im Stolz auf ihren Eigensinn sogar ihr Leben im Straßenverkehr riskieren und alle Anderen für Duckmäuser halten, die noch Regeln beachten. Mehr noch, manche jubeln sich selbst zu Widerstandskämpfern hoch, die sich „vom Staat“ nichts diktieren lassen und daher gegen alles opponieren, was irgendwie vom Staat kommt. Manche sind — mit Verlaub — so bekloppt, dass sie jede Uniform als Feindbild sehen und sich selbst ermächtigen, Polizisten und sogar Rettungssanitäter oder Feuerwehrleute anzugreifen.

Tut mir leid, aber solches Verhalten verstehe ich als „neben der Kappe“, dafür gibt es keine vernünftigen Begründungen. Und was die Totalopposition gegen „den Staat“ betrifft, dazu habe ich schon ausführlich Klartext geschrieben, siehe Blog-Beitrag „Machtpolitik“ vom 11.02.2022, Fußnote „Der Staat an sich“.

Iran, Afghanistan, Pakistan… besonders in diesen Ländern unterdrücken Machthaber und ihre Gehilfen die Frauen, angeblich im Namen der Religion, angeblich im Namen religiöser Prinzipien. Dabei folgen diese Islamisten nicht dem Beispiel des Propheten (mehr dazu siehe >Höheres), sie verwechseln Männerherrschaft mit Gottes Willen. Religion wird zum Machtinstrument, der Iran zeigt es deutlich. Wie alle autoritären Machthaber machen sie ausländische Mächte für die Proteste verantwortlich und kriminalisieren die Kritik an ihrem Regime. Dabei mischen ihre Trolls im Internet mit und verbreiten Diffamierungen und Fake News gegen ihre Kritiker, auch wenn sie ins Ausland geflohen sind.

Was können Beiträge wie dieser hier, oder beispielsweise demonstrative Auftritte prominenter Frauen, die sich Haar abschneiden, bewirken? Direkte Wirkungen auf das Regime haben sie nicht, aber sie halten das Thema bei uns in der öffentlichen Diskussion und stärken moralisch die Protestierenden im Iran. —

Nachtrag am 22.10.2022 Die zentrale Frage ist doch: In was für einer Welt wollen wir leben? Wollen wir in dieser Welt, in der real 8 Milliarden Menschen leben (und überleben wollen), immer weiter mit Urgroßvaters Rezepten aus der Steinzeit wirtschaften und ständig gegeneinander um Nahrung, Gebiete, Besitz kämpfen, immer mal wieder auf gut klingende Parolen hereinfallen und Führern blind hinterherlaufen, an Waffen und Gewalt als geeignete Mittel der Durchsetzung glauben, uns egoistisch gegen andere Menschen abschotten, und uns in die Tasche lügen, dass das eben nicht anders ginge? Wollen wir weiter die Verlogenheit mittragen, die behauptet, dass wir in Europa christliche Werte vertreten, dass wir die Menschenrechte ganz hoch achten, dass wir für den Frieden in der Welt eintreten, dass wir Vorreiter von Klima- und Umweltschutz sind?

Wir leben in einem Land, das mit Waffenexporten Geld verdient, das seinen Plastikmüll zum großen Teil in andere Lander transportiert, das … ach, Ihr wisst schon, wieviel Mist vor und hinter den Kulissen läuft. Ihr wisst auch, wieviel über die Regierung gemeckert wird. Die Regierung kann aber nicht besser sein als die, die sie wählen. Wenn z.B. die gegenwärtige Bundesregierung mehr Moral in die Außenpolitik und in die Energiepolitik zu bringen versucht, hat sie automatisch mit starkem Gegenwind zu rechnen — nein, nicht so sehr aus der Bevölkerung, sondern mehr von den Lobbyisten der Wirtschaft und diversen anderen Verbänden, die weiter wie bisher auf Teufel-komm-raus Geld verdienen oder einfach nur störrisch ihre Pfründe verteidigen wollen.

Ich persönlich halte manchmal den Dauer-Meckerern entgegen: Mit den Politikern in Verantwortung möchte ich derzeit nicht tauschen. Die haben kein leichtes Leben, die müssen ständig von irgendwoher Kritik einstecken, in diesen Zeiten auch die Drohungen von diversen Knallköpfen. Dabei kritisiere ich auch Vieles, versuche aber, sachlich zu bleiben und meine Meinung mit Sachargumenten zu begründen.

In was für einer Welt wollen wir denn leben? Wo Einer dem Anderen an die Gurgel geht, wenn ihm dessen Meinung nicht passt? Wo Einer der Anderen Gewalt antut und sie erniedrigt, um vermeintlich seine Männlichkeit zu beweisen? Kann man auf so ein Verhalten stolz sein? Für wie blöde halten uns manche Dummschwätzer? Entweder habe ich Verstand und respektiere die Mitmenschen gleich welchen Geschlechts, gleich welcher Herkunft und gleich welcher Hautfarbe als prinzipiell gleichberechtigt, oder ich habe kein Recht, mich selbst auf verfassungsmäßige Rechte zu berufen oder von Menschenrechten zu faseln.

Und was da gerade im Iran vor sich geht, zeigt: Man kann mit Gewalt die Menschen eine Zeitlang knechten und unterdrücken, aber man kann sie nicht auf Dauer für blöde verkaufen.

Übrigens: Letzteres sage ich auch im Hinblick auf die populistischen Rechtaußen, die in manchen Ländern an die Macht gelangen, nachdem sie den Leuten fremdenfeindliche Parolen und falsche Träume verkauft – oder sich an die Macht geputscht haben.

W. R.