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Gewalt verstehen?

IMG_5949Was ist los in Europa, in der Welt? Sind es nur die Sensationsnachrichten, die dieses Bild vermitteln, oder nimmt die Bereitschaft zur Gewalttätigkeit unter den Menschen wirklich zu?
Man  gewinnt den Eindruck: Jeder durchgeknallte Wirrkopf glaubt inzwischen, er könne seine Aggressivität willkürlich an irgendwem abreagieren, und jeder Versager versucht mit einer Gewalttat in den Medien groß rauszukommen, und weil es mehr Beachtung bringt, bekennt er sich zu irgendeiner Terror-Ideologie.
Es sind gar keine politischen oder religiösen Motive, die die meisten Terror-Mordtaten auslösen, es sind vielmehr emotional gestörte Seelen, die ihre Gefühle nicht mehr kontrollieren können und ein beliebiges Objekt suchen, um sich abzureagieren.
Die meisten der in den Medien als Aufreger gemeldeten Gewalttaten haben einen gemeinsamen Hintergrund, egal ob es diese Einzeltäter-Attentate oder jene Gruppengewalt von Hooligans ist. Es sind kranke Seelen, oft von erlittener Gewalt geprägt, die von der Vorstellung beherrscht werden, ihr Dasein habe den einzigen Zweck, ihre angestaute Aggressivität in Gewalt zu entladen, koste es, was es wolle.
Hooligans bestärken und befeuern ihre Idee in der Gruppe und mit Alkohol (der bekanntlich enthemmt), politische oder religiöse Fanatiker heizen ihre Menschenfeindlichkeit oft im Internet auf, wo sie sich, wie wir hören, radikalisieren, d.h. wo sie eine passende Ideologie für ihre Gewaltbereitschaft finden, sodass sie bald selbst glauben, im Namen einer höheren Sache zu handeln. Das gibt dem Mörder ein besonderes Hochgefühl: Ich lande im Paradies, oder wenigstens für kurze Zeit im Focus der medialen Aufmerksamkeit – was für ein Höhepunkt, was für ein spektakulärer Abgang!
Ursprung dieser Gewaltbereitschaft ist eine aus persönlichen Kränkungen und Ohnmachtserfahrungen geborene Zerstörung ihres Glaubens an das Gute in der Welt, ein aus persönlicher Versagenserfahrung und Hoffnungslosigkeit gezeugter Glaube an die Verderbtheit der sie umgebenden Gesellschaft bzw. der Welt überhaupt — woraus die Folgerung gezogen wird, es sei eh alles egal, und es spiele keine Rolle mehr, wen und wieviele es treffe.
So sammelt sich ein Hass an, der nur noch danach trachtet, loszuschlagen und möglichst Vielen viel Leid zuzufügen. Der aus Versagensgefühlen geborene Selbsthass lässt dabei jede Rücksicht auf das eigene Leben vergessen — und fertig ist der ideale Selbstmordattentäter.
Wer sich mit den politischen oder religiösen Deklamationen in Bekennerschreiben etc. aufhält, sieht also am entscheidenden Tatmotiv vorbei. Da hilft kein „Verständnis“ für die (angeblichen) Motive der Mörder oder Terroristen, denn damit versteht man nicht wirklich, was solche Täter antreibt. Und damit versteht man auch nicht, warum noch lange nicht jeder zum Gewalttäter und Amokläufer wird, der sich gegen Unrecht ausspricht und auflehnt.
Man kann auch nicht mit einem Hooligan über angeblich ungerechtes Vorgehen der Polizei diskutieren, wenn der doch ohnehin in eine Gewalt-Kultur hineingewachsen ist und gerne Gewalt-Eskalationen provoziert. Es gibt Milieus, wo Gewalt die erste Wahl als Problemlösung ist, es gibt Kreise, in denen Gewalttaten gefeiert und die Täter aus den eigenen Reihen zu Helden gemacht werden. Das muss man nüchtern zur Kenntnis nehmen, auch wenn man selbst solchen Kreisen fern steht.

Kann man Gewalt verstehen? Ja, man kann im Einzelfall ihre Ursache verstehen, aber: verstehen bedeutet noch lange nicht entschuldigen und verzeihen. Und auf gar keinen Fall: tolerieren.

Wer zu Gewalttätigkeit neigt, möchte trotzdem moralisch in gutem Licht erscheinen, und Menschen finden meist Gründe, Vorwände oder Ausreden, um ihr Handeln (zumindest vor sich selbst) zu rechtfertigen. Gewaltbereite Menschen legen sich eine Begründung zurecht, die z.B. auf der Grundannahme IMG_5950fußt, die Welt sei nun mal von ständigem Kampf bestimmt, es gelte das Recht des Stärkeren, und man müsse sich ständig mit Gewalt durchsetzen. Darauf fußt auch die Weltanschauung von Faschisten: Sie meinen, Gesprächsbereitschaft und Kompromisse seien etwas für Schwächlinge. Daher verachten sie Demokratie und Völkerverständigung, setzen vielmehr auf Machteroberung und Machtpolitik, und — einmal an der Macht — planen sie Krieg gegen andere Völker… einfach aus Prinzip, denn Frieden langweilt sie.

Auch heute gibt es Menschen, die in pubertären und spätpubertären Machtfantasien z.B. an die nationalsozialistische Ideologie anknüpfen — oder sich von Propaganda des Terror-Machtapparates IS beeindrucken und faszinieren lassen. Wer charakterlich nicht so gefestigt ist,  wer die Identifikation mit Machokultur und großspurige Machtdemonstration braucht, um sich nicht als unsicheres Würstchen zu fühlen, der schließt sich leicht solchen Gruppen oder Organisationen an, fühlt sich als Teil von etwas Größerem, Höherem, und wird dabei meist unmerklich zum Werkzeug fremder Interessen.

Manchmal sind es die einfachen Erklärungen einer komplizierten Welt, gepaart mit emotionalen Parolen und der Nestwärme in der Gruppe oder Masse, die eine unwiderstehliche Anziehung auf verunsicherte, verstörte Geister und Gemüter ausüben. In wohliger Übereinstimmung mit der Masse lassen sich die zuvor friedlichen Mitläufer zu Ausschreitungen hinreißen, für die sie allein nicht die Traute hätten. Man braucht Beispiele nicht in der Geschichte zu suchen, die Gegenwart bietet dafür genug Anschauung.*

Gewalttätigkeit lässt sich schwer aus der Welt schaffen, wenn Menschen schon als Kinder in einem gewaltbereiten Umfeld aufwachsen, wenn sie Gewalt als natürliche Begleiterscheinung ihres Lebens akzeptiert haben, wenn sie nicht gelernt haben, Konflikte auch durch Gespräch, Kompromiss und Interessenausgleich zu lösen. Was in Familie und Gesellschaft für friedliche 10eKonfliktlösungen sorgt, kann und muss auch zwischen Staaten funktionieren. Die Geschichte Europas sollte doch 26bAbschreckung genug sein: Sie zeigt, welche Folgen es haben kann, wenn man lieber auf nationalistische Überheblichkeit, Größenwahn, Gewalt und militärische Macht setzt: Das Ding entwickelt eine unheilvolle Eigendynamik, und am Schluss fährt die größte Ernte der Sensenmann ein.

Leider lernen andere Regionen und Kontinente nicht aus unserer Geschichte, z.B. aktuell in Syrien: Der dortige Krieg, der das Land ruiniert, erinnert an den unsäglichen Dreißigjährigen Krieg in Europa (1618-48), dessen Schauplatz hauptsächlich Deutschland war. Damals mischten mehrere ausländische Mächte mit und griffen in ihrem eigenen Interesse in den Krieg ein — ohne Rücksicht auf die Bevölkerung. Lest die Folgen nach in den Geschichtsbüchern!

W. R., im Juli 2016

* Nach Ortega y Gasset gibt es eine typische Charakterstruktur, die den Menschen zum Element der Masse macht und ihn bewegt, seine Individualität aufzugeben; er schwimmt gern in der Masse, wo er scheinbar als Mitläufer keine Verantwortung hat, sich aber immer in der Masse geborgen fühlt. „Masse“ wird hier zum Kennzeichen auch des Einzelnen, der nicht individuell denken, fühlen, beurteilen und entscheiden will, sondern sich meist der Herde anschließt.

Menschen treten (egal in welcher Anzahl) als „Masse“ auf, wenn sie z.B. einem Verkehrsunfall, einer Vergewaltigung in der Fußgängerzone, einer Schlägerei gaffend zuschauen, ohne selbst in irgendeiner Weise helfend einzugreifen, ohne die Polizei zu rufen, ohne den Rettungskräften Platz zu machen, etc.

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