IE Freie Universität Frechen ist online seit dem 23. April (Tag des Buches) 2013. Ein Buch als Symbol der Bildung und der Weisheit findet sich sowohl in mittelalterlichen Darstellungen des hl. Audomar, des Schutzheiligen von Frechen, wie auch im mittelalterlichen Wappen der Universitas Frekenae, die, wie die Beatus-Chronik überliefert, im Jahre 1303 kurz vor ihrer Gründung stand.
Ich halte es nicht für gewagt, für die Zukunft vorherzusagen, dass sich das Buch nicht von den neuen Medien verdrängen lassen wird. Vielmehr rechnet der Spiritus Rector der F.U.F. mit einer in bildungsnahen Kreisen steigenden Wertschätzung des Buches. Wir blicken immerhin auf eine Tradition von weit über zweieinhalb Jahrtausenden zurück, in denen das geschriebene Wort auf Papyrus, Pergament oder Papier (und in Stein gemeißelt) von besonderer Bedeutung war und daher wertgeschätzt wurde.
Nun kann man einwenden, dass das geschriebene Wort ja bei der Nutzung digitaler Medien nichts von seiner Bedeutung verliert. Warum soll es dann ein Buch sein? Dazu sagt der Professor für deutsche Sprache und Didaktik Michael Becker-Mrotzek:
Wir wissen aus Studien, dass das Lesen von informativen Texten nach wie vor besser auf Papier als auf digitalen Geräten gelingt. Lesen im Internet erfordert zusätzliche Kompetenzen. Zum Beispiel kann man auf einem kleinen Smartphone-Bildschirm nur einen kleinen Ausschnitt lesen, der Überblick über den ganzen Text fehlt. Online gibt es Verlinkungen. Als Leser muss ich mich ständig entscheiden, ob ich weiterlese oder dem Link folge. Im gedruckten Text ist der Faden vorgegeben. Die dritte Herausforderung: Im Internet muss ich immer auch die Glaubwürdigkeit der Quelle einschätzen. Das muss man bei einem Buch oder einer Zeitung in der Regel nicht, weil eine Redaktion oder ein Verlag dahintersteht. Wer als geübter Leser diese zusätzlichen Hürden meistert, kann im Internet genauso wie in einem Buch lesen. (zitiert aus einem Interview im Kölner Stadt-Anzeiger, „Es fängt mit Vorlesen an.“ 9./10.Mai 2020, S. 14; es geht dabei um Lesenlernen, Lesen und Lernen von Kindern)
Wer seinen Kindern etwas Gutes tun und ihre Entwicklungschancen fördern möchte, sollte ihnen vorlesen; die Grundschule muss flüssiges Lesen und die richtige Strategie der Informationsentnahme vermitteln. Letzteres bedingt das spätere Interesse am Lesen, denn wenn ein Kind oder heranwachsender Mensch Texte liest, ohne sie zu verstehen, erlahmt die Lust am Lesen, und wir bekommen einen Lesemuffel. Das sind laut einer PISA-Studie von 2018 über die Hälfte der deutschen SchülerInnen.
Dieser Befund ist erschreckend, kein Zweifel. Was für viele ältere Menschen noch selbstverständlich ist, nämlich bisweilen oder öfter ein „gutes Buch“ zu lesen, das wird zunehmend jungen Menschen fremd, sie bevorzugen die Bilder- und Videoflut diverser Internet-Angebote und ihre knalligen, meist umgangssprachlich formulierten Textnachrichten. Dabei könnte manch sprachliche und damit gedankliche Differenzierung verloren gehen…
Vor diesem aktuellen Hintergrund sieht die F.U.F. eine wachsende Notwendigkeit nicht nur darin, dem oben beschrieben Trend entgegenzuwirken; dazu gehört auch, die Wertschätzung des Buches zu erhalten und zu fördern. Einen Beitrag dazu soll die Auslobung des ANIMUS-Preises liefern.
In der F.U.F. besonders wertgeschätzte Bücher werden mit dem ANIMUS-PREIS ausgezeichnet, wobei nicht der aktuelle Buchmarkt, sondern der langfristige Wert des Buchinhalts das wichtigste Kriterium für eine Nominierung ist. Hier interessiert also nicht die Spiegel-Bestsellerliste oder eine ähnliche Hit- oder Ranking-Liste, die sich an Verkaufszahlen orientiert. Denn auf solchen Listen erscheinen ziemlich viele Titel, deren Verlage auf schnelle Verkaufserfolge aus sind und den evtl. literarischen Wert oder die ggf. bildende bzw. aufklärerische Tragweite fast schon billigend in Kauf nehmen.
Der Buchmarkt
Wir sollten das den Verlagen nicht verübeln, denn sie müssen sich auf einem Markt behaupten, der in den letzten 1½ Jahrzehnten durch die neuen Medien noch schwieriger geworden ist. Dabei setzen Lektoren und Verlagsleiter sowie deren Geschäftsführer natürlich nur z.T. auf Qualität; in den Vordergrund ist inzwischen die Frage gerückt, ob ein Manuskript das Zeug zu einem Bestseller hat und damit ein paar weniger gut verkaufte Titel quersubventionieren kann.
Dabei kann niemand sicher vorhersagen, ob ein Buch zum Bestseller wird. Da aber die Verlage insgesamt vorsichtiger in der Auswahl der Manuskripte geworden sind, kommt es sicher häufiger als in früheren Zeiten zu einer Ablehnung von Manuskripten, die sowohl Qualität aufweisen als auch vom Lesepublikum gut angenommen würden. Es gibt wenige Ausnahmen, wo VerlegerInnen noch Leidenschaft für Literatur und für wirklich gute Bücher in ihre Entscheidungen einbeziehen.
Wir alle haben schon von früheren Fehlurteilen von LektorInnen bzw. Verlagsleitungen gehört, die Manuskripte ablehnten, bis der 10. oder 15. Verlag es doch wagte und damit einen Sensationserfolg landete. So erging es Arthur Conan-Doyle mit seinen Sherlock-Holmes-Geschichten im späten 19. Jahrhundert, oder Joanne K. Rowling mit ihren Harry-Potter-Romanen im späten 20.
Da kann man heute jeder Autorin und jedem Autor, deren Namen noch niemand kennt, nur raten, unbeirrt an viele Verlage heranzutreten und sich von Absagen nicht abschrecken zu lassen. Allerdings muss man auch hier einschränken: Manch ein Lektorat ertrinkt in Zusendungen von Manuskripten und prüft daher dieselben nicht mehr eingehend, sondern nur nach vorheriger Reduzierung der Auswahl.
So landen viele Manuskripte ungelesen beim Absender, weil die oft überlasteten und zugleich mäßig bezahlten LektorInnen die Menge nicht bewältigen können. Außerdem verlassen sich viele Verlage gern auf die Vorauswahl von LiteraturagentInnen, die vermittelnd zwischen Autoren und Verlage treten.
Und im Zweifel verlegt man lieber mit Lizenz einen erfolgreichen Autor aus dem Ausland, als einen deutschen Neuling zu setzen. Beim ersteren weiß man: Der hat im Ausland schon hohe Verkaufszahlen gebracht, das unternehmerische Risiko ist folglich geringer. Gut, man muss das Buch übersetzen lassen — aber ÜbersetzerInnen werden traditionell schlecht bezahlt (Das deckt sich heutzutage voll mit den neoliberalen Denkmustern: Man spart am Personal, das ist immer der erste Ansatz zur Kostensenkung). So rechnet sich das Ganze.
Und so sieht dann auch ein großer Teil des Buchmarktes aus: Man versucht, den Massengeschmack zu treffen und mit knalligem Cover und/oder exzentrischem Titel die Aufmerksamkeit des potentiellen Käufers zu erregen. Bücher verkaufen kann nun jede/r, die/der anständig reden kann, von Literatur muss sie/er nichts verstehen. Werden überhaupt noch BuchhändlerInnen ausgebildet? Wenn ja, wer stellt sie ein, wo doch nach neoliberaler Denke am liebsten mit Billigpersonal gewirtschaftet wird?
Wenn das Buch noch ein „Kulturgut“ sein und bleiben soll, dann fragt sich der nachdenkliche Mensch: Was sagt die heutige Buchproduktion über unsere Kultur? Und wenn es nicht mehr so sehr um das Medium Buch geht, wie sieht es in den anderen Medien aus? Was spiegelt sich denn in den Filmen, der Musik, den Spielen, die uns auf dem Markt entgegenfluten?
Fragen über Fragen, über die es sich nachzudenken lohnt. Und schon Albert Einstein stellte fest: „Wichtig ist, dass man nicht aufhört zu fragen.“
Der Animus-Preis
Die F.U.F. zeichnet mit dem Animus-Preis Bücher aus, die man getrost (neben anderen) in die Rubrik „Das Buch als Kulturgut“ einordnen kann. Aber die hier preisgekrönten Kulturgüter erfüllen außerdem einen wertvollen sozialen Zweck:
Der ANIMUS-PREIS der Freien Universität Frechen wird vergeben an AutorInnen, die in besonderer Weise – und im Sinne des inhaltlichen Programms der FUF – zur Aufklärung und Horizont-Erweiterung ihres Publikums beitragen und Menschen anleiten, sich mehr ihres eigenen Verstandes zu bedienen und ihr Urteilsvermögen zu stärken.
Der Animus-Preis gebührt also Menschen, die uns ohne Rücksicht auf liebgewonnene und eingefahrene Denkgewohnheiten andere Wege und neue Zusammenhänge sehen lehren, auf dass wir unsere Welt tiefer begreifen und sinnvoller mitgestalten können.
Nominierung und Preisvergabe beziehen sich auf ein bestimmtes oder auch auf mehrere Werke der Preisträgerin oder des Preisträgers. Ein Auswahlkriterium dabei ist die Veröffentlichung in deutscher Sprache nach 1980.
Der Animus-Preis ist eine ideelle Auszeichnung und nicht materiell dotiert. Er sollte aber dazu beitragen, dass einige beachtenswerte Werke nicht dem Vergessen anheimfallen, nur weil der Markt der Medien die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit gern im raschen Wechsel auf das jeweils Neueste lenken will.
Es folgt die Liste der bisherigen PreisträgerInnen — in chronologischer Reihenfolge der Erstveröffentlichung ihres als preiswürdig ausgezeichneten Werkes:
Hartwig Suhrbier, Günter Krüger, Heinz Ohff, Richard David Precht, Hagen Schulze, Elke Heidenreich, Frank Dix, Matthias Schulz, Waltraud Sperlich, John Nettles, Eva Goris und Claus-Peter Hutter, Jasmin Schreiber
HARTWIG SUHRBIER für sein Buch „Blaubarts Geheimnis“. 1984
Anlässlich einer Lesung in der Galerie „Blickwinkel“ in Frechen und dem sich daraus ergebenden Gespräch im Mai 2014 wurde deutlich, dass die Blaubart-Figur und die Bearbeitungen des Stoffs seit der ersten Fassung von Charles Perrault aus dem Jahre 1697 eine kulturhistorische Dimension besitzen, deren Brisanz nicht nur von späteren Bearbeitern des Stoffs empfunden wurde, die ihn abzumildern suchten, sondern in psycholgogischer Sicht auch eine erschreckende Aktualität aufweisen.
Zur Erinnerung: Das Märchen vom „Blaubart“ erzählt von einem Mann, der von Frauen besessen ist und sie zugleich unter seine totale Kontrolle zu bringen versucht. Er stellt ihnen als Gehorsamsprobe eine Falle: Sie dürfen während seiner Abwesenheit ein bestimmtes Zimmer des Hauses nicht öffnen und betreten – doch gerade dieser Versuchung kann die Neugier nicht widerstehen. Als die Ehefrau die Tür zur verbotenen Kammer aufschließt, findet sie dort ihre ermordeten Vorgängerinnen – und wird daraufhin vom zurückgekehrten Blaubart selbst ermordet. Erst als eine es schafft, mit Hilfe ihrer herbeieilenden Brüder Blaubarts mordender Hand zu entkommen und ihn zu töten, ist der Bann gebrochen, und sie kann ein eigenes, selbstbestimmteres Leben beginnen.
In der Einleitung zu der Sammlung von Blaubart-Texten aus mehreren Jahrhunderten schreibt Suhrbier: „Dass mit Blaubart ein repräsentativer Typ geschaffen wurde, dürfte eine wichtige Voraussetzung für den außerordentlichen Erfolg dieser Erzählung nicht nur in Frankreich gewesen sein…“ (S. 12). Was repräsentiert er? Blaubart ist ein extremer Exponent der Männerherrschaft, die die Frauen zu kontrollieren und zu unterdrücken sucht, ein Patriarch, der sich sogar ein Urteil über Leben und Tod der Frau anmaßt.
Dabei muss „Tod“ nicht wie im Blaubart-Märchen wörtlich genommen werden, Herrschaft kann und wird vielfach auf subtilere Art ausgeübt, nämlich als psychische Kontrolle, d.h. durch Angst bis hin zur Todesangst, oder als totale Kontrolle über das Leben der Frau, die kein eigenes hat und völlig zur Kreatur des Mannes wird. „Tod“ ist hier das nicht gelebte eigene Leben, tot ist die eigene Persönlichkeit der Frau.
Spätere Fassungen, die die Blaubart-Erzählung in den Orient verlegen, entspringen offensichtlich dem Bedürfnis, diese Thematik als exotisch auszulagern und ihre Bedeutung als nicht relevant für die bürgerliche Gesellschaft Mittel- und Westeuropas kleinzureden. Dabei muss doch das Publikum die Symbolik des Blaubarts gepürt haben, sonst wäre er nicht sonderlich interessant und der Stoff nicht so erfolgreich gewesen. Im späten 19. Jahrhundert, in dem mit Hilfe der Technik die Natur unterworfen, mit Hilfe der Waffentechnik die Welt in Kolonien aufgeteilt wird, ist Blaubart die Chiffre des Zeitgeistes schlechthin:
Mit dem Unterwerfungsversuch über die Gehorsamsprobe befindet sich Blaubart in Übereinstimmung mit den Leitwerten der bürgerlich-patriarchalischen Gesellschaft. Denn Unterwerfung, Dienstbarmachung und schließlich auch Zerstörung der Natur ist in ihr, bedingt durch die kapitalorientierte Wirtschaftsweise, an der Tagesordnung – Allmachtsphantasien, die heute als umweltzerstörender Allmachtswahn erkennbar sind. (S. 18f.)
Blaubart will das „Naturwesen“ Frau, ihre emotionale und sexuelle Vitalität, domestizieren und kontrollieren, weil er sich davon bedroht fühlt. Das heißt, er fühlt sich einer Begegnung auf Augenhöhe nicht gewachsen. Blaubart mordet nicht aus Lust, sondern aus Angst, damit die Frauen nicht hinter sein Geheimnis kommen: die Hohlheit seines Wesens, seine emotionale Impotenz (weil er Gefühlsunterdrückung für starke Männlichkeit hält).
Nun könnte man aus heutiger, mitteleuropäischer Sicht einwenden: Wir haben doch inzwischen die Frauen-Emanzipation und eine weitgehende Gleichberechtigung der Geschlechter durchlaufen; bei uns ist Blaubart nicht mehr aktuell, sondern eine ferne Erinnerung an überwundene Gesellschaftsstrukturen. Doch stimmt das wirklich?
Lassen wir mal die Mitbürger außer Acht, die aus patriarchalischen Gesellschaften zu uns eingewandert sind. Wir regen uns gern – und völlig zu Recht – über sogenannte Ehrenmorde in Familien von Migranten auf. Doch schauen wir auf die eingesessenen: Wie steht es denn flächendeckend mit der Gewalt in der Kindererziehung einer deutschen Familie, mit Gewalt in der Ehe, mit Vergewaltigung? Sind das völlig verschwundene Phänomene?
Relevante Untersuchungen zeigen, dass es nicht umsonst Frauenhäuser gibt, in die sich Frauen vor prügelnden Ehemännern flüchten. Denn eine große Zahl macht immer noch Erfahrungen von Gewalt, nicht nur in der Ehe. Sexuelle Übergriffe, auch scheinbar harmlose verbale, entpuppen sich bei genauerem Hinsehen als Machtspiele von Männern, die Frauen in die Rolle der Schwächeren, Unterlegenen drängen wollen. Auch Vergewaltigungen sind ja eigentlich weniger sexuelle als vielmehr Gewaltverbrechen.
Wenn wir dann noch die Perspektive erweitern und uns fragen, wie weltweit diese Machtkämpfe zwischen den Geschlechtern aussehen und was uns das über den Menschen im Allgemeinen sagen könnte, dann kommen wir so schnell aus dem Grübeln nicht mehr heraus. Dazu fand ich einen Zeitungsartikel, der diese Thematik aktuell beleuchtet: http://www.tagesspiegel.de/weltspiegel/pakistan-sudan-indien-barbarische-akte-gegen-frauen-erschuettern-die-welt/9976026.html
Da soll noch Eine oder Einer sagen, „Blaubart“ sei nicht mehr aktuell! Darum gehört dieses Buch, und die Beschäftigung mit der Blaubart-Figur, in die Bibliothek der F.U.F. und mit dem Animus-Preis ausgezeichnet.
-SR-
Nachtrag Jan. 2019: Mehr zu H. Suhrbier siehe unten unter der Überschrift „Entdeckungen“
GÜNTER KRÜGER für sein Buch „Bauen und Wohnen im Wandel: ein baugeschichtlicher Streifzug durch den Erftkreis.“ 1992
Günter Krüger starb im Jahre 2009 – ein Verlust für die Stadt Brühl (im Rheinland), die ihm viele Anstöße und Aktivitäten verdankt, und diese beschränkten sich nicht auf sein künstlerisches Wirken. Er setzte sich vehement für die Wertschätzung und Erhaltung alter Bauwerke aus verschiedener Epochen ein, um eine dem Menschen angemessene Lebenswelt zu erhalten, in der Altes mit Neuem versöhnt und in harmonischer Beziehung steht. Diesem Ziel diente auch sein hier ausgezeichnetes Buch, das den ganzen Rhein-Erft-Kreis in den Blick nimmt.
In den 1970er Jahren startete Krüger die Bürgerinitiative „Rettet Brühl jetzt!“, die sich – z.T. mit Erfolg – gegen das forsche Abräumen alter, denkmalwürdiger Bausubstanz in Brühl wehrte. Später gelang ihm die Erhaltung und Unterschutzstellung einiger, z.T. jahrhundertealter Bauten im Zentrum der Stadt Brühl. In einem dieser denkmalgeschützten Gebäude richtete er das Museum für Alltagsgeschichte ein, das nach seinem Tod „Günter-Krüger-Haus“ getauft wurde. mehr>http://www.bruehler-museumsinsel.de/museum_alltagsgeschichte.html
Krüger stellte mit seiner vielfältigen Arbeit unter Beweis, dass nicht nur bombastische Zeugnisse der Vergangenheit wie das Brühler Schloss interessant und erhaltenswert sind, sondern auch eher unscheinbare Objekte, die dem flüchtigen Auge leicht entgehen. Der Schönheit, der Aura, ja der spirituellen Qualität auch kleinerer Relikte aus dem Leben unserer Vorfahren galt sein besonderes Augenmerk. Das musste jedem Besucher des Museums für Alltagsgeschichte auffallen, wenn z.B. am Nachmittag Sonnenstrahlen durch die Sprossenfenster fielen und nicht nur die Holzdielen des Fußbodens warm aufleuchten ließen, sondern auch die Ensembles der hier präsentierten Objekte in ein fast mystisches Licht tauchten. In diesem Haus, so erlebte es der SR bei einem Besuch, war man in einer Welt, die sich wohltuend den hastigen Sehgewohnheiten moderner Medienkonsumenten widersetzte.
Krügers Blick war nicht allein auf Kleinode fixiert; der Vielseitige ging auch nicht an den Highlights Brühler Selbstvermarktung vorbei, ohne sich damit auseinanderzusetzen. So trat er im Jubeljahr des Brühler Schlosses mit einer Veröffentlichung hervor, die den Nachruhm Balthasar Neumanns kritisch betrachtete und dessen Rolle beim Bau des Schlosses vom genialen Architekten zum tüchtigen Bauleiter herabstufte.
Ebenso ließ er die Lobhudelei auf den großen Künstler und Sohn der Stadt, Max Ernst, nicht unkommentiert. In einer seiner letzten Publikationen, die auch optisch sehr schön gestaltet ist, bürstete Krüger den Nimbus auf und stellte Max Ernst vom Kopf auf die Füße: „Max Ernst macht Spaß: Fakten statt Legenden.“ Nicht als Demontage des berühmten Künstlers, sondern als Richtigstellung und Ergänzung einer einseitigen Sicht will Krüger dieses Buch verstanden wissen.
So verweist er auf die oft eher schnell übergangene Frühzeit des Künstlers, als er sich der DADA-Bewegung anschloss und mit Anderen in Köln eine Ausstellung organisierte, die von der Polizei geschlossen wurde. DADA war politisch, gesellschaftskritisch und provokant. Später experimentierte der phantasievolle M.E. viel mit künstlerischen Techniken, blieb aber bescheiden und lehnte 1971 die Ehrenbürgerschaft der Stadt Brühl ab. Krüger erwähnt den Hintergrund — nicht ohne Seitenhieb auf das offizielle Brühl: Man tat sich schwer mit dem „verlorenen Sohn“ der Stadt — und hätte ihn am liebsten nur als den berühmten Künstler vereinnahmt, dessen Werke am internationalen Kunstmarkt hohe Preise erzielten.
Krüger wird hier für das eingangs genannte Buch geehrt. Doch auch sein Buch „Max Ernst macht Spass“ (Verlag dieterklein.com, 2005) hätte ihn für den Animus-Preis empfohlen. Dazu mehr >Im persönlichen Gespräch: Günter Krüger, Museumsleiter und Buchautor .
Man kann Günter Krüger mit Fug und Recht einen politischen Künstler nennen. Darüber hinaus war er ein Kultur-Aktivist, der sich nicht auf Appelle beschränkte, sondern selbst in Wort und Tat auf die Verwirklichung von Ideen und Projekten drängte, die sowohl die ästhetische Erziehung wie die soziale Sensibilisierung der Menschen fördern sollten.
In einem Artikel im Kölner Stadt-Anzeiger vom 29.07.2009 mit der Überschrift „Querdenker voller Ideen“ werden Stimmen über Günter Krüger zitiert: „Er konnte hinter grauen Fassaden das Einzigartige sehen.“ – „Er war ein enfant terrible.“ – „Er hat Geschichte in Brühl bewahrt und Geschichte geschrieben.“
Und nicht zu vergessen: Er war ein exzellenter Zeichner.
(An Günter Krüger wird auch auf der Unterseite >Persönliches erinnert.)
-SR-
HEINZ OHFF für sein Buch „König Artus: Eine Sage und ihre Geschichte.“ 2004, Erstveröff. 1993 unter dem Titel „Artus“
Vielleicht ist es das ultimative Buch zum Thema „König Artus“. Für Interessierte lässt es keine Frage offen, weder zur historischen noch zur literarischen Seite dieses Themenkomplexes. Und es ist gut lesbar geschrieben, was wenig verwundert, denn der Autor Heinz Ohff (1922-2006) war lange als Journalist im Kulturbereich tätig.
Als einer der Interessierten – und zudem Reisender, der u.a. Tintagel und Glastonbury besucht hatte – war ich begeistert von diesem Buch, es zog mich förmlich hinein, sodass ich es kaum weglegen konnte. Genauso ging es mir einige Jahre später, als ich es erneut aufschlug. Ohff wahrt trotz aller Farbigkeit der Erzählweise Distanz zu seinem Thema, er weist uns immer wieder sachlich auf Eigenarten und Differenzen der verschiedenen Quellen und Darstellungen hin, aus denen der Stoff (oder die Legende) um Artus und den Personenkreis um ihn in Jahrhunderten gewachsen ist – bis zum Höhepunkt gegen Ende des Mittelalters, als Sir Thomas Malory die vielfältigen Überlieferungen und Erzählstränge in einem Werk zusammenführte.
Malorys „Morte d’Arthur“ wurde vom berühmten englischen Druck-Pionier William Caxton 1485 redigiert und verlegt, der die letzte Kapitelüberschrift kurzerhand auch zum Titel des Gesamtwerks machte. Inzwischen gibt es eine weitere Version, die auf dem 1947 veröffentlichten Manuskript Malorys fußt; dieses enthält Korrekturen und Ergänzungen Malorys und ist etwas umfangreicher, wurde aber nicht für den Druck von Caxton benutzt.
Ohff lotet bei verschiedenen Gelegenheiten auch die psychologische Seite der Arthur-Erzählungen aus und die Motive der Handlungen einzelner Protagonisten, u.a. auch der Motive hinter Caxtons „Klappentext“ zur ersten Ausgabe der „Le Morte Darthur“, wie es anfänglich betitelt war.
Hier könnte man nun eine besonders gelungene oder erhellende Passage zitieren, doch wo ich auch das Buch aufschlage, finde ich überall solche Passagen. Lest also selbst nach, und erfahrt dabei, so Ihr wollt, alles über ein berühmtes Stück Weltliteratur.
-SR-
RICHARD DAVID PRECHT für sein Buch „Noahs Erbe: vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen.“ 1997
Precht bietet mit diesem denkerischen Rundumschlag ein Paradebeispiel für das, was der Animus-Preis auszeichnen will. Sein vernetztes Denken, sein weiter Horizont und seine Darstellung von Zusammenhängen werden in verständlicher Sprache dem Publikum näher gebracht.
Auch Precht zu hören ist eine Wohltat: in Interviews wie in seinen Beiträgen zur Diskussion in Talkshows besticht sein Auftritt durch eine klare, allgemeinverständliche Ausdrucksweise, und in seiner unaufgeregten Art macht er auch dem weniger informierten Publikum Sachverhalte klar. Das fällt besonders auf im Kontrast zu manchen Politikern, die ihm in Talkrunden gegenübersitzen und dazu neigen, Dinge eher wortreich zu verschleiern als kenntlich machen.
Precht hat nach dem hier prämierten Werk weitere Bücher veröffentlicht, die es wie „Wer bin ich, und wenn ja, wie viele?“ zum Bestseller brachten. Aber der Animus-Preis gebührt dem Inhalt und nicht dem Verkaufserfolg. „Noahs Erbe“ schlug der Spiritus Rector (SR) der FUF schon vor Jahren für eine Auszeichnung vor, denn sein Motto dabei lautet: „Was gut ist, soll man auch gut nennen!“
Nachtrag vom 21.04.2017: Mehr zum Inhalt dieses Buches findet man hier > Noahs Erbe von Richard D Precht bei LovelyBooks (Sachbücher)
Nachtrag 2017: Im Jahr 2016 erschien eine aktualisierte und überarbeitete Neuauflage mit dem Titel: „Tiere denken. Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen.“ Ebenso lesenswert wie die Vorgängerversion von 1997. mehr >Richard David Precht: Tiere denken | ZEIT ONLINE .
Nachtrag am 16.10.2023: Die Lobeshymne auf Precht klingt stellenweise so, als sollte er zum Halbgott erhoben werden. Dem ist natürlich nicht so, denn auch er ist nur ein Mensch — das zeigte sich in manch einer Äußerung zu aktuellen Fragen, der man nicht kritiklos applaudieren muss. Da war seine Einlassung kurz nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine (24.2.23), in der er meinte, die Ukrainer sollten keine Gegenwehr leisten, um weiteres Blutvergießen zu vermeiden. Das war quasi abstrakt-philosophisch im Sinne der reinen Lehre des Pazifismus gedacht, aber weit weg von der brutalen Wirklichkeit vor Ort. Denn Krieg lässt sich nur verhindern, bevor er ausbricht, und bloßes „Nichtmitmachen“ schützt nicht davor, zum Opfer zu werden.
-SR-
HAGEN SCHULZE für sein Buch „Gibt es überhaupt eine deutsche Geschichte?“ Erstveröffentlichung 1989, bearb. Neuausgabe 1998
Als dieses Buch erstmals erschien, stand Deutschland kurz vor der Weichenstellung zur Wiedervereinigung. Damals lag es auf der Hand, die Frage nach deutscher Nation, nach den Grenzen des deutschen Nationalstaates, auch in historischer Perspektive aufzurollen. Denn die Deutschen in Ost und West suchten ihre gemeinsame nationale Identität wieder zu finden bzw. neu zu definieren, als die Chance zur Wiedervereinigung ins Blickfeld rückte. Und dazu wurde natürlich auf die gemeinsame Geschichte zurückgegriffen.
Nachdem die erste Auflage erschienen war, stellte sich heraus, dass in Deutschland Viele ganz selbstverständlich auf Vorstellungen einer deutschen Nation zurückgriffen, die in der Zeit vor der deutschen Teilung vorherrschten. Manche schlugen sogar nationalistische bis chauvinistische Töne an, kauften T-shirts mit der Aufschrift „Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein“ und meinten, das sei jetzt wieder angesagt. Mehr noch, es kam zu ausländerfeindlichen Tätlichkeiten, und schließlich zu Brandanschlägen auf Häuser, in denen Migranten wohnten.
Vor diesem Hintergrund erschien die bearbeitete, ungekürzte Taschenbuchausgabe bei Reclam, neun Jahre nach der Erstausgabe. Es war ein lobenswerter Versuch, denen, die es lesen wollten, und darunter vor allem denen, die glaubten, sich mit ihrem Neo-Nationalismus auf eine lange „deutsche Geschichte“ berufen zu können, eine sachliche Analyse des Werdegangs der deutschen Nation vorzulegen.
Hagen Schulze spart dabei nichts aus, weder die Frage „Was ist deutsch?“ noch die Frage nach den politischen Grenzen einer Nation, die im 19. Jahrhundert einen Nationalstaat zu bilden suchte, noch die Frage, wieviele Mythen und wieviel Verklärung der Vergangenheit sich in das Bild der deutschen Geschichte gemischt haben.
Tatsache ist, dass es bis weit in das 19. Jahrhundert hinein zwar ein Bewusstsein einer „deutschen Kulturnation“ gab, die sich geografisch im Zweifel am deutschen Sprachraum orientierte; doch war angesichts der politischen Verhältnisse gar nicht daran zu denken, die Menschen „deutscher Zunge“ bzw. die von ihnen mehrheitlich bewohnten Gebiete politisch zu vereinigen. Politisch war Mitteleuropa seit dem 17. Jahrhundert in zahlreiche Territorien zersplittert. Erst 1871 wurde mit der Gründung des kleindeutsch-großpreußischen Reichs ein deutschen Nationalstaat in Mitteleuropa installiert, der sich „Zweites Kaiserreich“ nannte.
Der Begriff „deutsch“ bezog sich seit dem Mittelalter auf die Volkssprache und die Leute, die sie in einer der Dialektformen sprachen. Die deutsche Nation war bis weit ins 18. Jahrhundert „ganz und gar Sache des gebildeten Bürgertums, ein reiner Kulturbegriff.“ (S. 27) Als die Herrschaft Napoleons die nationalen Gefühle entfachte, suchte man nach einer politisch brauchbaren Vorstellung einer deutschen Nation. Der Wiener Kongress (1815) ordnete Europa jedoch nach den alten Vorstellungen.
„Da also die Gegenwart der neuerwachten nationalen Idee keine Anhaltspunkte gab, wurde die deutsche Nation aus der Geschichte in Form einer utopischen Projektion begründet.“ (S. 31)
Man griff auf eine Seelenverwandschaft mit den alten Griechen zurück. Man entdeckte die von Tacitus als sittlich unverdorben hochgelobten Germanen, die zu direkten Vorfahren der Deutschen erklärt wurden, und setzte sie in Gegensatz zur römischen Dekadenz und Sittenverderbnis bei den romanisierten Völkern, allen voran den Franzosen. Man erschuf das Bild von einem „deutschen Mittelalter“, mehr erträumt als wirklich, mit deutschen Domen (wobei der Fakt vernachlässigt wurde, dass z.B. die Gotik kein deutscher, sondern ein europäischer Baustil war, der sich von Frankreich her ausbreitete).
Lyriker und Romanciers wetteiferten darin, ein romantisch-heroisches Mittelalterbild zu entwerfen, in dem strahlende Kaiserherrlichkeit und eine alle Klassen des Volkes umfassende, christliche Frömmigkeit und Einfachheit herrschten, ohne Konflikte und Gegensätze; das Böse kam stets von außen, als römische Intrige oder französische Sittenverderbnis. (S. 43)
Das Buch leitet schlüssig aus einer Palette von Beispielen her, wie sich ein deutscher Nationalismus aus romantischen und teils kitschigen Bildern der Vergangenheit zusammenbackt. Und wir lesen von der Unfähigkeit der deutschen Geschichtswissenschaft, die von ihr selbst in die Welt gesetzten Mythen im späten 19. oder frühen 20. Jahrhundert kritisch zu hinterfragen und zu korrigieren. Überhaupt ist es gerade für Historiker eine Lust, dieses Buch zu lesen, sodass man es kaum aus der Hand legen möchte. Und einen Rat gibt Hagen Schulze den Historiker noch mit:
Die deutsche Geschichte muss also, um ihre Zusammenhänge zu finden, entnationalisiert werden. Das gilt besonders für den zweiten Strang der historischen Kontinuität, die Kulturgeschichte. Denn trotz der territorialen Zersplitterung Mitteleuropas gibt es hier seit dem Mittelalter eine zusammenhängende kulturelle Tradition auf der Grundlage der deutschen Sprache. Wenn es, wieder einmal nach Nietzsche, die Deutschen kennzeichnet, dass bei ihnen die Frage nie ausstirbt, was eigentlich deutsch sei, so gibt es doch eine sichere Antwort: die deutsche Sprache. Aber auch hier muss vor allen Versuchen einer nationalen Verengung gewarnt werden. Die deutsche Sprache war zunächst eine Volkssprache; wo sie auf die Ebene der literarischen Elite gehoben wurde und in kulturellen Denkmälern gerann, da sind ihre mittelalterlichen Zeugnisse ohne Anregungen und direkte Übertragungen aus dem Französischen nicht denkbar (…) (S.65f.)
Die deutsche Kultur- und Sprachgemeinschaft kann nicht die Identität eines Nationalstaates begründen — dieser Versuch ist im Laufe der vergangenen zwei Jahrhunderte exemplarisch misslungen. (S. 66)
Also, weder ist die deutsche Kulturnation in politische Grenzen zu fassen – sie ist vielmehr eine mitteleuropäische – noch kann man von einer langen Traditionslinie einer Deutschen Geschichte in einem in politischen oder geografischen Grenzen definierten Raum reden. Deutschland ist – kurz zusammengefasst – in Europa eingebettet.
Wer sich für deutsche Geschichte interessiert und sich dieses erschwingliche (4,-€) und handliche Reclam-Bändchen nicht kauft, ist selbst schuld.
Wer sich ausführlicher mit der Frage nach der deutschen Geschichte befassen möchte und dazu auch eine Menge Illustrationen schätzt, sei verwiesen auf: Hagen Schulze, Kleine deutsche Geschichte: Mit Bildern aus dem Deutschen Historischen Museum. München: Beck, 1996
Prof. Hagen Schulze (1943-2014) lehrte Neuere Deutsche und Europäische Geschichte an der FU Berlin.
-SR-
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ELKE HEIDENREICH für das Fernseh-Feature „Schlafes Mörder – über Shakespeares Macbeth“, zusammen mit Tom Krausz, 2008 (vorausgegangen: Buch 2002, Film 45 Min. 2005)
Unter dem Titel „Schlafes Mörder“ gibt es mehrere Versionen der Behandlung dieses Sujets. 2002 erschien ein Buch, zu dem der Fotograf Tom Krausz die Bilder aus der schottischen Landschaft lieferte. Diese erste Version stand noch sehr unter dem Eindruck der Anschläge vom 11. September 2001, was die Verweise auf aktuelle Bezüge betrifft. Später gab es auch eine Verfilmung. Die hier prämierte Fassung war ein noch späteres Fernseh-Feature, in dem Elke Heidenreich auch als Sprecherin agierte.
Die letztgenannte Version verbindet wie die vorangegangenen die Faszination des „Macbeth“ von Shakespeare einerseits mit der atmosphärisch meist düster fotografierten schottischen Landschaft, fügt andererseits den aktuellen Bezügen Verweise auf die im September 2008 von Finanz-Zockern ausgelöste Finanzkrise (Stichworte: Immobilienkrise in den USA, Zusammenbruch der Bank Lehman-Brothers) hinzu, die eine weltweite Wirtschaftskrise auslöste.
Für die Einen fallen ihre Aktualisierungen zu deutlich aus, für die Anderen wird „Macbeth“ als zeitlos gültige Darstellung menschlicher Verführbarkeit und Gier gerade damit in seiner Aktualität bestätigt und für das breite Publikum nachvollziehbar interpretiert, man könnte auch sagen: popularisiert.
Gerade der letztgenannte Aspekt begründet die Preisverleihung. Shakespeare ist zwar bis heute zeitlos-aktueller Bestandteil von Theater-Spielplänen weltweit, doch wird damit nur ein kleiner Teil der Bevölkerung erreicht. Heidenreich aber versucht, die Hemmschwelle des theaterfernen Publikums zu umgehen und das herrliche Stück „Macbeth“ über eine populäre Fernseh-Aufbereitung einem größeren Publikum nahezubringen. Schade, dass dieses Fernseh-Feature vom WDR zu sehr später Stunde ausgestrahlt wurde.
-SR-
FRANK DIX für sein Buch „Futurizing Oberberg: Gewinnerregion oder Haferspanien?“ 2008
Es geht um nichts Geringeres als die Zukunft einer ganzen Region. Dix macht in seinem Buch etwas, das eigentlich Berufenere schon hätten tun können: die vorhandenen Indikatoren einer Situation und die daraus resultierenden Perspektiven der Entwicklung zusammenzustellen, auszuwerten, und daraus ein Gesamtbild für eine Region und ihre Chancen zu entwerfen.
Dix bleibt nicht bei der Analyse stehen, er zeigt auch Handlungsmöglichkeiten für die Entscheider und die Menschen an den Stellschrauben auf, um einer negativen Tendenz rechtzeitig entgegenzusteuern und die Weichen für eine positive Entwicklung in der Region zu stellen. Und er verbindet dies mit einem Appell: Die Zeit drängt! Die Verantwortlichen an den Schaltstellen (das sind nicht nur Politiker!) müssen aktiv werden und um breite Unterstützung werben, damit ein Gesamtkonzept für die Region erarbeitet und möglichst bald umgesetzt werden kann. Dann kann der Kreis Oberberg, um den es hier geht, in eine prosperierende Zukunft steuern.
Das Buch entstand aus einer Diplomarbeit, die Dix im Spätsommer 2008 an der Fachhochschule in Gummersbach vorlegte. Die renommierte Kienbaum-Unternehmensberatung zeichnete diese Arbeit mit einem Sonderpreis aus.
Das Buch ist aber nicht, wie man meinen könnte, nur für Interessierte aus dem Oberbergischen Kreis lesenswert. Auch außerhalb dieser Region interessieren Menschen sich dafür, wie eine solche Untersuchung durchgeführt wird und mit welchen Parametern man zu solchen Ergebnissen kommen kann. So gesehen hat das Buch auch exemplarischen Charakter für alle, die einen Ausblick in die Zukunft einer Region versuchen wollen. –
Einige Jahre später zurückblickend, muss man sich über das geringe Echo dieser Publikation in der Öffentlichkeit wundern. Am Buch und seinem Thema kann es nicht liegen. Aus der Ferne betrachtet erscheint das sonderbar: In Oberberg wurde diese, schon vom Thema her wichtige Veröffentlichung nahezu totgeschwiegen. Fürchtete man vielleicht, zu weitreichenden Taten gedrängt zu werden, wo doch wichtiger erscheint, zeitnah wiedergewählt zu werden, oder die letzten Jahre in der Verwaltung bis zur Pensionierung in Ruhe abzusitzen, oder überhaupt sich nicht im eingefahrenen Trott aufstören zu lassen, oder… ?
Vielleicht spielte der einsetzende Rummel um die Entwicklung des neuen Zentrums der Kreisstadt Gummersbach eine – möglicherweise entscheidende – Rolle: Da flossen Fördergelder aus dem Topf „Regionale 2010“, da wurde aus dem neu zu gestaltenden Steinmüller-Gelände ein innovatives Zukunftsprojekt, als „Leuchtturm“ gelobt in den Medien – um das sich natürlich Viele verdient gemacht haben wollten.
In der Internet-Präsentation konnte man allerdings nicht erkennen, dass in diesem Projekt einer „Standort-Entwicklung und Standort-Vermarktung“ über die Stadt Gummersbach hinaus, also für den übrigen(!) Oberbergischen Kreis, positive Impulse oder Perspektiven mitgedacht und mitgeplant worden wären. Daher kann man vermuten, dass das Buch von Dix ungelegen kam und von Einigen als störender Zwischenruf in der offiziellen Gummersbach-Euphorie empfunden wurde.
Schade, dass der Zwischenruf von Dix ungehört zu verhallen scheint – schade vor allem für die Region Oberberg, die nun mal nicht bloß aus der Stadt Gummersbach besteht. Die konkurrierenden Nachbarkreise werden im Zweifel von der Ignoranz in Oberberg profitieren. Auch das kann man schon bei Dix, sachlich begründet, seit 2008 lesen. Dix‘ Appell zur Eile wurde nicht gehört, nun hat der Kreis das Nachsehen: Inzwischen wurden messbare Anzeichen festgestellt, nämlich Abwanderung junger Menschen und sinkende Immobilienpreise. –
Dass sich der Negativtrend fortsetzen wird, prognostiziert eine Studie, die im Oktober 2013 veröffentlicht wurde. Mehr>http://www.ksta.de/politik/-bevoelkerungsentwicklung-landlust-und-landfrust-in-nrw,15187246,24631066.html (Man beachte die Grafik: Oberberg liegt am nordöstlichen Rand des dort abgebideten Regierungsbezirks Köln.) –
Anm.: „nahezu totgeschwiegen“ – mit einer Ausnahme, nämlich der „Rundschau“, die am 01.10.2008 einen Artikel über die Arbeit von Dix brachte: „Region mit Licht und Schatten“ von Julia Jochem – allerdings in der Regional-Ausgabe „Rhein-Berg“ und nicht „Oberberg“! Ein Schelm, wer da denkt, bestimmte Leute mit Einfluss hätten ein Interesse daran gehabt, die Studie von Frank Dix von der Öffentlichkeit in Oberberg fernzuhalten.
-SR- zuletzt bearb. Okt. 2013
MATTHIAS SCHULZ für seinen Beitrag „Romantiker in Waffen“ über Alexander den Großen, in: Johannes Saltzwedel (Hg.), Götter, Helden, Denker: Die Ursprünge der europäischen Kultur im antiken Griechenland. München 2008, TB-Ausgabe München: Goldmann / Spiegel-Buchverlag 2010, S. 215-227
Schon gegen Ende meines Geschichts-Studiums, als Alexander der Große eins meiner Examensthemen war, beschlich mich die Frage, wozu dieser Mann das alles veranstaltet hatte und worin der nachhaltige Nutzen des zusammeneroberten, kurzlebigen Riesenreichs für die Menschheit gewesen war. Ja, gewiss, nach ihm kam das Zeitalter des Hellenismus, und die Welt des Nahen und Mittleren Ostens konnte am hellenischen Wesen genesen… oder so. Das zumindest berichteten die Geschichtsbücher, darin mehr oder weniger treu den antiken Autoren folgend; und ein römischer klebte jenem Alexander aus Makedonien das Etikett „der Große“ an, das ihm bis heute wie selbstverständlich anhaftet.
Dankbar las ich in den Ausführungen von Matthias Schulz, dass die Fragen, die mich damals beschlichen, auch ihn, und zwar besonders, beschäftigt hatten. Dass Alexander sich für göttlich hielt und selbst schon von Anbeginn seines Feldzuges gegen das Persische Reich dafür sorgte, dass seine Taten im rechten Licht gesehen und der Welt kundgetan würden, wusste man ja schon. Aber wundern darf man sich doch darüber, wie selbstverständlich die aus der Heldengeschichtsschreibung antiker Autoren sprechende Verehrung Alexanders von den Historikern des 19. und 20. Jahrhunderts (in Deutschland wegweisend: J. G. Droysen) übernommen und fortgeschrieben wurde.
Was war so „groß“ an diesem Alexander? Mit Blick in den Geschichtsatlas gesprochen: Klar, die große Ausdehnung seines Reiches, das sogar noch über die Grenzen des persischen Großreiches hinausgriff. Eine Karte des „Alexanderzuges“ darf in keinem Geschichtsbuch fehlen. Was war sonst noch groß? Er war weder groß von Gestalt, noch großzügig gegen besiegte Feinde. Groß war aber sein Durst nach alkoholischen Getränken, und groß war bisweilen sein Zorn und seine Tobsucht im Rausch. Groß, nein, eher vermessen war sein Drang zu immer neuen Eroberungen, bis seine Soldaten am Indus nach exzessivem Abschlachten nicht mehr weiter wollten. Ließ er deshalb einen Großteil des Heeres auf dem Rückweg durch die Wüste umkommen?
Selbst da schiebt sich vor den Wahnsinn des „Großen“ noch die verklärende Legende: Ein Soldat fand in der Wüste etwas Wasser und brachte es in seinem Helm dem Feldherrn. Der aber goss es aus und sprach: „Ein Alexander trinkt nicht, während seine Soldaten dürsten.“ Das mag sich genau so zugetragen haben, es zeigt dann eher die sich selbst nicht schonende Besessenheit dieses Menschen. Er sprengte immer wieder an der Spitze seiner Reiterei ins Schlachtgetümmel, was ihm natürlich auch verstärkte Loyalität seiner Soldaten einbrachte. Er soff aber auch bis zum Gehtnichtmehr und war dann tagelang kaum vor seinem Zelt zu sehen.
So zechte er auch eines Nachts gegen jede Vernunft und ohne Maß, bis er mit heftigen Bauchschmerzen zusammenbrach und Tage darauf verstarb, am 10. Juni, dem Vorabend seines nächsten, schon vorbereiteten Feldzuges im Jahre 323 v. Chr. Ohne einen designierten Nachfolger zerfiel Alexanders Reich in zahlreiche Teile, von denen einige als „Diadochenreiche“ unter seinen Generälen fortbestanden. Und die Autoren schrieben fleißig, dass der Hellenismus, die griechische Kultur, dank Alexander den Osten befruchtet habe…
Schulz wendet ein:
Doch seit einigen Jahren fällt Schatten auf den antiken Gröfaz* (…). Historiker werfen dem Mann einen „psychotischen Charakter“ und eine krankhafte Todessehnsucht vor. Auch von „autoaggressiven Trinkgewohnheiten“ (Vössing) ist die Rede. (…) Vieles spricht dafür, dass er an einer Entzündung der Bauchspeicheldrüse starb – ein typisches Trinkersymptom. (…) War Alexander ein Komatrinker? Diese Diagnose verdüstert das traditionelle Bild vom edel gesinnten „Weltverbrüderer“, der griechische Lebensart bis ins Land der Brahmanen gebracht habe und der am Ende tragisch an Malaria oder einem Giftanschlag verschieden sei.
Ein Held? Wohl kaum, meint Schulz:
Die Wahrheit ist weit weniger erbaulich. Schätzungen zufolge starben beim Angriff auf das Morgenland, den der Stratege als „Rachefeldzug“** startete, etwa 750 000 Menschen. Zerschlagen wurde dabei ein tolerantes Vielvölkerreich, das Religionsfreiheit, erträgliche Steuerlasten und Chancengleichheit ohne Ansehen der Rasse bot. In dieses „Paradies“ (…) schlug Alexander mit nie gekannter Brutalität hinein. (S. 217)
Der Animus-Preis wird vergeben mit Dank dafür, dass hier auch einmal Fragen beantwortet wurden, die in früheren Zeiten eher überhört wurden, in Zeiten nämlich, da Feldherren imperialen Großmachtträumen nachhingen und Alexander als großes Vorbild sahen. Und wer sich mit den ideologischen Rechtfertigungen der Römer für ihre Eroberungen befasst hat, der erkennt, dass das Rechtfertigungsmuster schon vorlag: Die Barbaren können froh über unsere Eroberungen sein, denn wir bringen ihnen die höhere Zivilisation.
Daran wird im 19. jahrhundert, im Zeitalter des Imperialismus, nahtlos angeknüpft und z.B. im britischen Weltreich von „the white man’s burden“ bramarbasiert: Wir weißen Europäer laden die Last auf uns, andere Kontinente mit unserer hochentwickelten Zivilisation zu beglücken. Und folglich kann auch Alexander in den Augen der damals tonangebenden Historiker nur segensreich erobert haben, denn er war der Halbgott, der die hellenische Hochkultur mitbrachte.
Der Beitrag von M. Schulz regt auch dazu an, über die Frage nachzudenken, wer warum einigen Persönlichkeiten der Geschichte den Beinamen „der Große“ zugeschrieben hat. —
Übrigens: Auch andere Beiträge in diesem Buch sind lesenswert – der oben belobigte füllt nur etwa 12 der knapp 280 Seiten dieses Sammelbandes.
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* Gröfaz = spöttische Abkürzung für „größter Feldherr aller Zeiten“, ein Propaganda-Etikett für Hitler
** Alexander hatte etliche griechische Stadtstaaten zur Teilnahme am Feldzug gegen das Perserreich überredet, indem er als Kriegsziel Rache für die Zerstörung griechischer Heiligtümer durch persischer Truppen verkündet hatte. –
-SR- Aug. 2013
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WALTRAUD SPERLICH für ihr Buch „Alles Mythos! 20 populäre Irrtümer über die Steinzeit.“ Darmstadt: WBG/Theiss-Verlag, 2013
Wer das Cover dieses Buches sieht und den Titel liest, könnte meinen, es handelte sich um ein sehr populär verpacktes Werk, mit dem der Verlag breite Käuferschichten ansprechen möchte. Es ist auch im Stil gut verständlich und publikumsnah geschrieben und verzichtet auf „Fachchinesisch“. Das ist auf jeden Fall gut so, denn damit ist dieses Buch ein Beispiel für Wissenschaft, die einem breiteren, interessierten Publikum nahe gebracht wird, ohne dabei auf sachlich korrekte Darstellung zu verzichten. Ein so konzipiertes Buch ist aus der Sicht der F.U.F. auf jeden Fall preiswürdig.
Vom Theiss-Verlag kennt man ja schon einige gute Bücher, die den neueren Stand der Wissenschaft den Interessierten, d.h. gebildeten Laien vorführen, so sie sich einen fundierten Überblick über ein Wissensgebiet verschaffen wollen. Das bekommt man — auf den zweiten Blick — auch hier geboten, wenn man nicht auf den ersten Blick, fälschlich und vorschnell, das Buch beiseite gelegt hat in der Meinung, es handele sich um so etwas wie Wisssenschaft „für Dummies“.
Nein, dieses Buch hat vor allem ein Anliegen: Aufklären und irrige Ansichten beseitigen, die noch in unseren Köpfen sitzen mögen. So haben die deutschen SchülerInnen bis in die 1980er Jahre aus ihren Geschichtsbüchern noch gelernt, dass der Neanderthaler im Vergleich zum Homo Sapiens grobschlächtig, affenartig, primitiv und kulturell wenig entwickelt und schon aus anatomischen Gründen nicht in der Lage gewesen sei, sprachliche Laute zu formen oder gar eine differenzierte sprachliche Kommunikation aufzubauen.
Und selbstverständlich hielten es früher die Autoritäten der Wissenschaft für unmöglich, dass Höhlenmalereien aus der Steinzeit von einem Anderen als dem Homo Sapiens geschaffen sein könnten. Nach dem ersten Knochenfund im Neanderthal bei Düsseldorf (1856) wurde in Deutschland Jahrzehnte lang bestritten, dass es sich um vorzeitliche Menschenknochen handeln könnte. Als das Alter nicht mehr zu leugnen war, entwarf man das oben zitierte Zerrbild des unterbelichteten Wilden, dessen Abbild man als Statue noch heute unweit des Neanderthalmuseums besichtigen kann (siehe Foto) — auch ein Zeitzeugnis!
Sieben Jahre nach der Entdeckung ordnet der irische Geologe William King den Neandertaler der Gattung Frühmenschen zu und klassifiziert ihn als Homo neanderthalensis. Ein Jahr, bevor Virchow [1872] sein vernichtendes Urteil fällt, schreibt Charles Darwin: „Nichtsdestoweniger muss zugegeben werden, dass einige Schädel von sehr hohem Alter, wie beispielsweise der berühmte Neandertaler-Schädel, sehr gut entwickelt und geräumig sind.“ Die wissenschaftlichen Sphären waren zu keiner Zeit hehre. Schon damals wurde gehauen und gestochen, was das Zeug hielt. „Bevor sich eine neue Theorie durchsetzt, müssen erst ihre Gegner sterben“, mag man da Max Planck zitieren. … (S.61)
Auch das lehrt dieses Buch: Nicht nur viele Irrtümer hielten sich z.T. bis heute in unseren Köpfen, auch die Geschichte der Wissenschaft ist z.T. ein Vorwärtsirren, und vielen Menschen fällt es eben schwer, eine einmal gefasste Meinung zu korrigieren oder gar einen Fehler einzugestehen.
Sperlich stellt dar, dass — man staune — der Neandertaler anscheinend sogar in Vielem besser an die Bedingungen der Eiszeit angepasst war als der später eingewanderte Homo sapiens, und dass manche Spuren künstlerischer Betätigung wohl fälschlich dem Homo sapiens zugeordnet wurden — aus den o.g. Gründen.
Der Neandertaler ist nicht ausgestorben, weil er als Primitivling dem modernen Menschen unterlegen war. Kulturell war er ihm zumindest ebenbürtig, hatte Kunstempfinden ebenso entwickelt wie Speere und Keilmesser. Und körperlich war der bullige Kraftprotz dem Homo sapiens weit überlegen. (S. 66)
Exemplarisch wurde hier das Kapitel „Irrtum 5: Der Neandertaler war mehr Tier als Mensch“ herausgegriffen, um dieses Buch vorzustellen. Es ist auf jeden Fall lesenswert, denn kaum jemand hat den neuesten Stand der Forschung zur Frühgeschichte des Menschen „auf dem Schirm“ (wie man heute sagt). Wer das dennoch von sich meint, überprüfe sein Wissen am letzten Kapitel: „Die Entwicklung des Menschen: Statt Stammbaum ein Stammbusch“.
-SR- August 2015
JOHN NETTLES für sein Buch „Hitlers Inselwahn: Die britischen Kanalinseln unter deutscher Besetzung 1940-1945.“ 2015 / „Hitlers England“ in der Reihe ZDF-History
John Nettles kennen Viele aus der Fernsehserie „Inspector Barnaby“, in der er lange Zeit die Hauptrolle spielte. Doch ist er auch Historiker – was ich erst erfuhr, als ich im Fernsehen diejenige Folge der ZDF-Reihe „History“ sah, in der Nettles in einem Dokumentarfilm persönlich durch die Kriegsjahre führt, in denen die britischen Kanalinseln von deutschen Truppen besetzt waren. Der Film basiert auf seinen Recherchen zu dem o.g. Buch, die er unternahm, als er für eine andere Fernsehserie längere Zeit auf den Inseln drehte.
In diesem Film geht er auf die Problematik von Widerstand und Kollaboration einerseits ein und die spezielle Situation, die das Ganze noch komplizierte: In London hatte man beschlossen, die Kanalinseln nicht zu verteidigen, als die deutschen Truppen Frankreich besetzten. Man zog die britischen Truppen von den Inseln ab und bot Einheimischen an, auf die britische Insel evakuiert zu werden. Letzteres wählte aber nur ein kleinerer Teil der Bevölkerung von Alderney, Guernsey, Jersey, und Sark. Dann überließ man sie ihrem Schicksal: Zunächst bomardierten die Deutschen die beiden Häfen, dann kamen Besatzungstruppen, und bald darauf bauten Deutsche und Zwangsarbeiter Befestigungen zur Verteidigung gegen britische Angriffe (die aber nicht stattfanden).
Die verbliebene Inselbevölkerung fühlte sich von London im Stich gelassen. Schlimmer wurde die Lage, als die Nahrungsmittel knapp wurden, sowohl für Einwohner wie Besatzer. Die Deutschen verloren Sympathie oder zumindest Toleranz bei vielen Briten, als die sahen, wie man mit den osteuropäischen Zwangsarbeitern umging. Andererseits gab es auch Kollaboration und Denunziation.
Nettles hat all dies dokumentiert – was ihm nicht nur Anerkennung einbrachte: Die Freunde, die er bei seinem Aufenthalt auf den Inseln gewonnen hatte, kündigten ihm die Freundschaft auf, als sein Buch erschien. Ein Phänomen, das wir aus anderen Ländern kennen: Als Nachwirkung der Kriegspropaganda mit ihrem Freund-Feind=Gut-Böse-Schema will man bei den Guten gewesen sein und folglich nur Gutes getan haben, während man alle Missetaten auf die Gegenseite projiziert. Wer dieses Schema stört, gilt als „Nestbeschmutzer.“ So erging es den Initiatoren der Wehrmachts-Ausstellung in den 1990er Jahren; so wehrten sich die Serben heftig gegen Berichte über das Massaker von Srebenica (1995), in dem ihre „Helden“ ca. 8000 unbewaffnete Bosniaken umbrachten. Und in Polen will man nicht darüber reden, dass nach dem Zweiten Weltkrieg in manchen Dörfern Pogrome gegen Juden stattfanden (nach Abzug der Deutschen!).
Es ist John Nettles daher hoch anzurechnen, dass er auf der Suche nach der historischen Wahrheit auch unangenehme Dinge berichtet, die Andere lieber beschweigen würden. Und es gehört sich nicht, hämisch mit dem Finger auf gewisse Leute zu zeigen, die unter schwierigen Umständen ein aus späterer Sicht zweifelhaftes Verhalten zeigten. Denn was Nettles und Andere uns vor Augen führen, sind keine Aussagen über „die Briten“, „die Deutschen“ oder andere Pauschalurteile; vielmehr lernen wir etwas über Menschen und wie sie sich verhalten, wenn sie in besondere Situationen kommen.
-SR-
EVA GORIS UND CLAUS-PETER HUTTER für ihr Buch „Federleicht: Das erstaunliche Leben der Spatzen“, mit Illustrationen von Bernd Pöppelmann. Wilhelm Heyne Verlag München, 2022
Unspektakulär erscheint dem flüchtigen Passanten dieses Buch wie auch sein Gegenstand. Und doch fällt es Menschen auf, die sich darauf verstehen, das Ungewöhnliche im Gewöhnlichen zu sehen, und die zudem nichts Lebendiges in ihrer Lebenswelt für uninteressant halten, sondern sich gerade für Alltäglich-aber-kaum-Bekanntes interessieren.
Aber reden wir vom Positiven: Das Buch kreist um die Begegnungen mit einem besonderen Spatz, d.h. eigentlich ist er nicht mehr besonders als alle anderen Lebewesen auch, nur: Dieser Spatz hatte sich mehr als andere den Menschen zugewandt, die ihm einen Namen gaben — und ihm Fürsorge und Schutz angedeihen ließen.
Wir erfahren in diesem Buch viel über Spatzen und andere Vögel, lernen sie mit Kenntnis beobachten und — soweit möglich — verstehen. Und während der Lektüre wird und klar: Auch die unscheinbaren, oder weniger spektakulären Vögel, Tiere, Lebewesen sind der Beachtung wert… und der Erhaltung. Und wir sollten in unseren Urteilen über den Wert von Lebewesen etwas vorsichtiger sein und bescheidener, statt uns als „homo sapiens“ erlaucht und vermeintlich allwissend über sie zu erheben.
Weil Menschen wenig über Spatzen wussten oder zu wissen für wichtig hielten, ignorierten sie deren Ernährungsweise: Erwachsene Spatzen sind vor allem Körnerfresser, verschmähen jedoch auch anderes Essbares nicht; ihre Jungen aber füttern sie nur mit Insekten, und das in großer Menge.
Daher führten ignorante Vernichtungskampagnen früherer Landesherren nicht nur zur Dezimierung der Spatzenpopulation, sie hatten auch für die Menschen unvorhergesehene, schädliche Folgen: Friedrich der Große blies seine Kampagne ab, als erkennbar wurde, dass Schad-Insekten sich übermäßig vermehrten, die vorher von Spatzen in Schranken gehalten wurden. Und Mao Zedong erwies der Landwirtschaft in China einen Bärendienst, als er Spatzen nahezu ausrotten ließ. Die Folge waren Insektenplagen, Ernteausfälle und Hunger. Doch auch in Deutschland wurde der Spatz bis in die Gegenwart eher als Schädling gesehen, der die Kornernte schmälerte. Man wusste einfach zu wenig über seine Ernährung und Lebensweise.
Das Buch korrigiert so manche Fehleinschätzung, z.B:
Staubbäder sind ideal für die Körperpflege. Parasiten bleiben in den Staubpartikeln hängen und fallen mit den winzigen Sandpartikeln aus dem Gefieder. Wissenschaftler haben in den Badekuhlen von Spatzen jede Menge Federparasiten gefunden. Das ist der wahre Grund für „Dreckspatzen“, sich im Staub zu wälzen. Diese Form der Hygiene hat dem reinlichen Vogel den unrühmlichen Namen eingebracht. Typisch Mensch: Wie so oft hat er Naturbeobachtungen falsch interpretiert.
Das gilt auch für die Redensart vom „Spatzenhirn“: Das kleine Spatzenhirn ist zu ungeahnten Leistungen an Geschicklichkeit und Anpassung fähig. Das beweist, dass allein die Größe eines Gehirns wenig über seine Leistungsfähigkeit sagt.
Dem ist nicht viel hinzuzufügen. Allzu schnell irrt der Mensch mit seinem relativ großen Gehirn, wenn er glaubt, sich über allgegenwärtige, „banal“ erscheinende Dinge ein schnelles Urteil erlauben zu können.
-SR- Juni 2023 (Fotos: W. R.)
JASMIN SCHREIBER für ihr Buch „Schreibers Naturarium“. Eichborn-Verlag 2023. Mit Illustrationen der Autorin
Ganz im Sinne der F.U.F. — und das überrascht KennerInnen diese Website nicht — bringt dieses Buch Wissen mit gut lesbarer, allgemeinverständlicher Sprache unter die Leute. Im Anschluss an das oben belobigter Buch über Spatzen (auch die kommen in diesem Buch vor) muss man feststellen, hier wird nicht nur Wissen, sondern werden auch aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse verständlich und in verdaulichen Dosen präsentiert.
Der Buchtitel deutet darauf hin: Die Autorin nimmt hier nicht einen engeren Bereich der Natur in den Blick, nicht nur die Pflanzen- oder die Tierwelt, sondern die ganze Natur, so wie sie uns umgibt.
Eingangs stellt sie klar: Natur ist nicht gleich „Natur“ in Natur-Dokumentationen, die uns Highlights in Super-Tele-Aufnahmen mit emotionalisierendem Kommentar oder unterlegt mit ebensolcher Musik ins Wohnzimmer bringen. Sie meint mit „Natur“ das, was wir erleben, wenn wir vor die Haustür treten, aber oft kaum bis gar nicht wahrnehmen; das, was sich nicht in tollen Bildern vor uns aufbaut, sondern sich oft verbirgt, dafür aber sehr präsent ist und vielerorts wächst und wuselt.
Gegliedert in Monats-Abteilungen, geht die Autorin mit uns durch das Jahr, stößt uns quasi mit der Nase auf die sinnlich erfahrbare Natur und ihre Veränderungen über’s Jahr. Da sie von Kindheit an Insekten-Fan ist, schließen ihre Wahrnehmungen auch die kleinsten Lebewesen mit ein, die wir draußen vorfinden können. Das können wir besonders dann, wenn wir uns mit Interesse, Neugier und etwas Geduld den Objekten nähern, d.h. Lebewesen, die bei näherem Hinsehen eine Vielfalt von Erscheinungen und Lebensweisen zeigen.
Die Autorin Jasmin Schreiber ist studierte Biologin, behelligt uns aber nur, wo nötig, mit Fachsprache, und setzt ansonsten auch gern mal umgangssprachliche Zwischenrufe, oder bricht einen Sachverhalt abschließend auf eine einfache Formel herunter — wohlgemerkt: nachdem die Sache verständlich beschrieben und erklärt wurde. So macht die Lektüre Spaß und bereichert zugleich das Wissen über und das Verständnis der Natur. Dabei ist klar: Wir Menschen sind auch Teil der Natur (obwohl wir uns oft anders sehen).
Als kleines Schmankerl möchte ich aus diesem umfangreichen Buch (nicht repräsentativ für das ganze) einen Auszug zitieren. Im Kapitel „Flirtende Bäume“ erläutert sie:
Das Spektrum an Reproduktionsmöglichkeiten unter Pflanzen ist sehr breit. Manche Samenpflanzen kommen nie wirklich aus der Pubertät raus und befummeln sich die ganze Zeit selbst, das bedeutet: sich selbst bestäuben. Yes, I am looking at you, Kartoffeln und Erbsen, es ist uns allen schon etwas unangenehm. Hände über die Erde, da, wo ich sie sehen kann!
Es gibt viele verschiedene Arten der Baumvermehrung, das eben beschriebene Beispiel ist nur eine davon. Bäume sind sexuell genauso vielfältig aufgestellt wie wir, allerdings nicht so verurteilend. Wenn ein Baum nur mit sich selbst Sex haben will oder mit achtundzwanzig anderen, stört das niemanden. Alle wissen, dass Karolina Kirsche es gern mit 76 Bäumen und 2.736 Hummeln parallel treibt und dass sie sich als Mann UND Frau identifiziert. Aber sie ist dennoch ein hoch angesehenes Mitglied der Baumcommunity, da Bäume nicht solche Fieslinge wie wir Menschen (manchmal) sind. (S. 144)
Dieser Auszug zeigt, dass Jasmin Schreiber bei aller sachlichen Kompetenz sehr unterhaltsam sein kann. Hervorheben möchte ich die Vielfalt an Einzelthemen, die auf der Höhe der Zeit behandelt werden. Und sie lenkt unseren Blick nicht nur auf kleine und alltägliche Lebewesen in unserer Umgebung, sondern auch auf größere Zusammenhänge, sprich: auf die ökologische Dimension und unsere Rolle darin.
Studien haben gezeigt, dass der Nährstoffkreislauf auf der Erde drastisch reduziert wurde, als viele der großen Tierarten ausgestorben waren. DerMensch hatte bei diesem Rückgang eine wichtige Rolle gespielt, indem er diese Tiere gejagt und getötet hatte, um sich zu ernähren. Darüber hinaus veränderte die Menschheit die Ökosysteme so stark, dass wichtige Akteure im Nährstoffkreislauf es schwer hatten zu überleben. Zum Beispiel beträgt das Gesamtgewicht aller Meeressäuger heute nur noch ein Drittel bis ein Zehntel von dem, was es vor dreihundert Jahren einmal betragen hatte. (…) Nach Schätzungen von Forschenden erreicht daher heute 96 Prozent weniger Phosphor das Land als vor dem Beginn der kommerziellen Hochseefischerei und des Walfangs. (S. 149)
Sie führt weiter aus, welche dramatischen Veränderungen für Flora und Fauna der ganzen Welt von menschlichem Handeln verursacht werden — etwas, was in dieser Deutlichkeit bisher kaum jemand einem breiteren Publikum vor Augen geführt hat.
Aber dies ist kein pessimistisches Buch, es ist voll von Anregungen zu produktivem Handeln: Wir können in kleinem wie größerem Maßstab aktiv werden und uns damit vor lähmender Passivität schützen. Das hier vermittelte Wissen hilft uns, Fehlgriffe zu vermeiden und unsere Umwelt sinnvoll zu gestalten. Genau darum gehört dieses Buch natürlich in die Bibliothek der Freien Universität Frechen — und ausgezeichnet mit dem Animus-Preis.
-SR-
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Der Name ANIMUS-Preis
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Woher leitet sich der Name „Animus“ ab? Zunächst sei klargestellt: Hier geht es nicht um die Begrifflichkeit von C.G. Jung, auch nicht um die Bedeutung des im Englischen negativ geladenen Wortes;* vielmehr haben wir die ursprüngliche, lateinische Bedeutung des Wortes im Sinn. So entlehnen wir das Motto dieses Preises beim römischen Dichter Ovid (43 v. Chr. – ca. 18 n.). Dessen berühmtes Werk „Metamorphosen“ (Verwandlungen) beginnt mit den Worten: „In nova fert animus.“ Ins Deutsche übersetzt bedeuten sie soviel wie: „Ins Neue führt der Mut.“ Oder: „Zu Neuem trägt der Esprit.“ **
Ovid erzählt in Buch VIII der Metamorphosen vom griechischen Baumeister Dädalus, der mit seinem Sohn Ikarus auf der Insel Kreta festgehalten wurde, aber in seine Heimatstadt Athen zurückkehren wollte. König Minos zögerte die Gewährung einer Ausreisegenehmigung immer wieder hinaus, weil ihm Dädalus als innovativer Kopf wertvolle Dienste leistete. Er wollte also einen „brain drain“ aus Kreta verhindern.
Der Geist verleiht Flügel
Daher begann Dädalus im Geheimen, eine besondere Erfindung zu entwickeln. Wenn König Minos die Küsten und Häfen kontrollierte, dann musste eben ein anderer Weg gefunden werden – durch die Luft: „Omnia possideat, non possidet aera Minos.“ (Alles mag Minos besitzen, die Lüfte besitzt er nicht. – VIII, 187) Also baute Dädalus für sich und seinen Sohn Ikarus Flügel aus Gänsefedern und Bienenwachs, und mit diesen erhoben sich die beiden eines Tages in die Lüfte und entschwanden dem Machtbereich des Königs Minos.
Die Erfindung des Dädalus funktionierte. Doch sein Sohn ignorierte nach einiger Zeit die Gebrauchsanweisung, flog in jugendlichem Überschwang zu hoch, und das Wachs schmolz in der Hitze der Sonne. Ikarus stürzte aus großer Höhe ab und ertrank im Meer, nahe der nach ihm benannten Insel Ikaria. Dädalus erreichte allein und in tiefer Trauer Athen. Von seinen Erfindungen brachte ihm vor allem das Labyrinth auf Kreta bleibenden Nachruhm. —
Das nebenstehend abgebildete Emblem entwickelte W. R. 1970 für eine Reihe seiner Individual-Publikationen, die unter der Flagge „Animus-Verlag“ und später „Edition Animus“ segelten, und für die das umlaufende Zitat, in übertragenem Sinne, besonders passend schien. Denn diese Editionen knüpfen u.a. an die Tradition der „Gegenkultur“ an, in der nach Bedarf bestimmte, am Markt nicht verfügbare Werke als sogenannte Raubdrucke nachgedruckt und zu einem geringen Preis in „alternativen“ Läden verkauft wurden.
Mit diesem Zeichen erscheinen Unikate und Kleinstauflagen, die in erster Linie für die Freie Universität Frechen hergestellt wurden, nicht jedoch zu kommerziellen Zwecken. In der hier gezeigten Form wird es seit 1980 verwendet. Es findet sich auch in der Buchveröfffentlichung DIE BEATUS-CHRONIK, S. 2, unter der Information über den Autor, und im Büchlein FRECHENER GESCHICHTE (mehr zu diesen Büchern >Unterseite Frekena von fu-frechen.de).
-SR-
* Nach meiner Beobachtung wird dieses Wort im Englischen höchst selten benutzt und bezeichnet eine heftige Abneigung, die oft auf Vorurteil oder bösem Willen basiert. Das hat erkennbar nichts mit unserem Preis zu tun.
** Kundige Altphilologen mögen hier stutzen und die Lippen zu einem Einwand schürzen, denn wer den Originaltext liest und Ovids Dichtkunst nur ein wenig kennt, der weiß, dass die oben zitierten vier Wörter für sich nicht den bei Ovid kunstvoll verschachtelten Eingangssatz wiedergeben, der auf das Thema „Verwandlungen“ hinweist.
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Weltliteratur: Erbe der Menschheit
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Über das Buch an sich kann man Bücher schreiben, und die gibt es auch auf dem Markt. So wird nicht zuletzt im Jubiläumsjahr „500 Jahre Reformaton“ daran erinnert, dass der neu erfundene Buchdruck wesentlich dazu beitrug, Luthers Schriften und seine Bibelübersetzung ins Deutsche zu verbreiten. Nun wird die Bibel oft das Buch der Bücher genannt und ist in vielen Übersetzungen über die Welt verbreitet. Daneben gibt es Bücher, die man zur Weltliteratur zählt, und die man gelesen haben (oder zumindest, deren Titel und AutorIn man kennen) sollte.
Was ist Weltliteratur? Das sind Werke der Literatur, die nicht bloß in einem Land gelesen werden und bekannt sind, sondern in andere Sprachen übersetzt wurden und in vielen Ländern ebenfalls bekannt sind. Man schätzt sie, weil sie vielen Menschen etwas zu sagen haben, allgemein-menschliche Probleme behandeln und daher auch von Vielen in unterschiedlichen Ländern verstanden werden.
Man muss nicht lange nachdenken, um Werke der Weltliteratur zu nennen. Da fallen einem ein: aus der Antike die ILIAS von Homer; aus dem Mittelalter die ARTUS-Romane und Dichtungen, die den Sagenkreis um König Artus‘ Tafelrunde zum Inhalt haben; dann das DECAMERONE von Boccaccio; die Gedichte und Lieder des François Villon; aus der Neuzeit Dramen wie MACBETH und andere von William Shakespeare, der DON QUICHOTTE von Miguel Cervantes, usw. Aus neuerer Zeit erinnern wir spontan noch mehr AutorInnen und Werke, da fallen natürlich auch die Namen von Schiller und Goethe…
Wer Bücher liebt und sich zu Hause eine gepflegte Bibliothek aufbaut, weil er oder sie einfach jederzeit seine/ihre geliebten Druckwerke zur Hand haben möchte, der ist bibliophil. Die Steigerung zur Bücher-Besessenheit nennt man biblioman. Manchen Leuten bedeuten Bücher aber auch nur eine teure Deko im Wohnzimmer, um sich vor ihren Gästen als gebildet auszuweisen, und wer es sich leisten kann, hat schöne Holzregale mit teils ledergebundenen Bänden mit Goldprägung, die komplette Encyclopedia Britannica, Goethes Gesammelte Werke, und dergleichen Renommier-Meter im Regal.
Wenn man Menschen kennenlernen will, die Bücher wirklich zu schätzen wussten und sich auf die Suche nach seltenen oder verschollenen Werken machten, dann schaue man zurück in die italienische Renaissance. Da gab es Leute, die versessen darauf waren, in Bibliotheken in ganz Europa nach verstaubten, vergessenen Raritäten zu suchen. Sehr anschaulich beschreibt dies Stephen Greenblatt in seinem Buch DIE WENDE: Wie die Renaissance begann (2011, deutsch 2012). Sie wurden fündig in manch einer Klosterbibliothek, wo Abschriften antiker Werke schon lange von niemandem mehr gelesen wurden und in der hintersten Ecke im Dornröschenschlaf lagen.
Die Begeisterung jener Leute für Bücher war ein bedeutender Anschub, die Rückbesinnung auf die Antike zu verstärken und damit die Renaissance in Schwung zu bringen. Den bedeutendsten Impuls gab Poggio Bracciolini, indem er die letzte existierende Abschrift von DE RERUM NATURA des antiken Autors Lukrez fand und vor dem Vergessen rettete. Klaus Binder, der Greenblatts Buch ins Deutsche übersetzte, lieferte auch eine kommentierte Neuübersetzung besagten Werkes: Lukrez, ÜBER DIE NATUR DER DINGE (2014). Die lateinischen Verse (Hexameter) hat er in deutscher Prosa wiedergegeben; natürlich muss dabei manch dichterische Finesse verloren gehen, doch wird für heutiges Publikum das Verständnis erleichtert.
(ausführlicher dazu: 600 Jahre „De rerum natura“: Feiert Lukrez statt Luther – Kultur – Süddeutsche.de )
Die Kunst der Übersetzung wird zwar meist unterbewertet, aber ihre Bedeutung für die Weltliteratur ist fundamental. Wir erwähnten eingangs schon Luthers Bibelübersetzung, bei der er sich auf lateinische und hebräische Texte stützte. Die wurde viel gelobt, und später hieß es, er habe „dem Volk auf’s Maul geschaut“ und dabei einen Beitrag zur Entwicklung einer einheitlichen deutschen Schriftsprache geleistet. Mehr noch: Luther schuf dabei auch eine Menge Redewendungen, die in den allgemeinen Sprachgebrauch übergingen. Seine Übersetzung wurde zu einem Meilenstein der Sprachentwicklung in Deutschland.
Die Übersetzung ist eine hochbrisante Sache, wenn es um eine Heilige Schrift geht, zumal wenn diese von vielen Anhängern einer Religion wörtlich verstanden und befolgt wird. Jesus sprach zu den Menschen seiner Zeit in Aramäisch. Aber auch der Koran steht in Verbindung mit dieser Sprache, die im Nahen Osten jahrhundertelang eine lingua franca war. Mehr dazu siehe >Höheres/Der Blick auf die eigene Geschichte. Allgemein gesprochen, ist es schwer, etwas zu korrigieren, das gedruckt in Büchern vorliegt und seit langer Zeit als gültig anerkannt ist. Denn man verlässt sich darauf: „Was man schwarz auf weiß besitzt, kann man getrost nach Hause tragen.“ (Goethe, Faust I, 1966f.).
Leider gilt das auch für Bücher, die als Fakes überhaupt nicht empfehlenswert sind, wie das berüchtigte Beispiel der „Protokolle der Weisen von Zion.“ Dieses Machwerk wurde nach Erscheinen sogar von der seriösen Times in London eines langen Artikels gewürdigt (8.5.1920), doch war ihr das später hochpeinlich, nachdem das Buch als Fälschung entlarvt worden war, und sie entschuldigte sich bei ihren Lesern Ende August 1921. Die „Protokolle“ waren vor dem Ersten Weltkrieg in Russland fabriziert worden, um Juden mit einer angeblichen Weltverschwörung zu diskreditieren.
Diese ominöse Weltverschwörung tauchte dann auch in Hitlers Reden auf. Kurz vor dem Zweiten Weltkrieg (Hitler plante längst einen Angriffskrieg) drohte er sogar für den Fall eines Krieges dem Judentum die Vernichtung an. Da war er offenbar schon entschlossen, bei passender Gelegenheit seine „Endlösung“ ins Werk zu setzen.
Trauriges Nachspiel: In den arabischen Ländern wurde das Buch später neu aufgelegt und viel verkauft, weil man damit die antijüdische Propaganda befeuern konnte. Traurig daran ist, dass die Araber, ein altes Kulturvolk, im 20. Jahrhundert solch ein Buch lesen, das doch eine erwiesene Fälschung ist. Aber das ist ja der Zweck von Verschwörungstheorien — oder besser: Verschwörungsfantasien: Mangels Fakten erfindet man hanebüchene Komplotte, um jemand bzw. eine Gruppe von Menschen unter Verdacht zu stellen und zu diffamieren.
Aber wenn wir uns an die deutsche Nase fassen, müssen wir ja auch zugeben, dass in diesem Land noch im 20. Jahrhundert eine Menge Leute den Schund glaubten, den besonders die Nazis über Juden verbreiteten. Und lange, nachdem dieser Spuk vorbei ist, versuchen wieder Leute im 21. Jahrhundert, die alte Hetze vor allem im Internet neu zu propagieren. Auch der bekannte deutscher Musiker X. N. ließ sich infizieren und nannte die hetzerischen Fake-„Protokolle“ ein „wichtiges Dokument der Menschheitsgeschichte“. Ein Dokument ist dies allerdings, nämlich als Beispiel für die Leugnung von Fakten und die ideologische Verbohrtheit von Menschen. Einfach nur peinlich: Si tacuisses… (Wenn du geschwiegen hättest…)
Man muss eben Vieles über den Menschen lernen, um zu begreifen, dass er oft leichtgläubig ist, dass er sich gegen andere aufhetzen lässt, und dass er, leicht zu manipulieren, seine Aggressionen auf irgendwelche Feindbilder lenken lässt. Nur so kann man sich wenigstens halbwegs erklären, dass dieses Land nicht nur Schiller und Goethe, sondern auch Himmler und Eichmann hervorgebracht hat (Sie wissen doch, wer diese Leute waren!?).
In diesem Land wurden viele gute Bücher geschrieben, darunter viele, die Humanität über völkischen Kleingeist stellen. Darum haben die Nazis im Mai 1933 solche Bücher öffentlich verbrannt, woran sich z.B. in Köln Studenten der Universität(!) beteiligten. Das beweist, dass Intelligenz und Belesenheit allein nicht vor Rassismus und Verhetzung schützen. Und wie obiges Beispiel zeigt, kann man auch ein guter Musiker und trotzdem Antisemit und Hetzer sein.
Was hilft: Man muss schon auch einen moralischen Kompass besitzen, der einem die Richtung zur Menschlichkeit weist.
S. R.
WICHTIGER HINWEIS:
Am 25. April 2023 zeigte Arte im Fernsehen um 20.15h den Film „Die Bücher, die Hitler nicht verbrannte.“
Darin geht es um Hitlers Privatbibliothek, insbesondere um Bücher, die er gelesen und teils für die Bildung seiner eigenen Weltanschauung verwertet hat — mit weitreichenden Folgen. Dieser Film ist ein Muss für HistorikerInnen und andere historisch Interessierte.
Wer den Film zur Sendezeit nicht sehen konnte, rufe ihn unbedingt in der Arte-Mediathek auf — zu einem Zeitpunkt, wenn die nötige Ruhe und Aufnahmebereitschaft vorhanden ist. (Sowas kann man nicht mal eben husch-husch zwischendurch im Multi-tasking gucken!)
Buch-Empfehlungen
für die Mußestunden im Urlaub, aber auch für den Herbst und Winter, wenn die Tage kürzer, die Abende länger werden und man sich gern mit guter Lektüre in den Sessel kuschelt:
→ Wolf Biermann, Warte nicht auf bessere Zeiten! Die Autobiografie. Propyläen/ Ullstein: Berlin 2016
→ Andrea Wulf, Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur. dt. Ausgabe 2016 bei C. Bertelsmann, München; engl. London 2015
→ Carel van Schaik u. Kai Michel, Das Tagebuch der Menschheit: Was die Bibel über unsere Evolution verrät. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2016; amerikan. Originalausg. New York 2016
→ Thilo Bode, Die Diktatur der Konzerne: Wie globale Unternehmen uns schaden und die Demokratie zerstören. S. Fischer-Verlag Frankft./M. 2018
→ Maren Urner, Schluss mit dem täglichen Weltuntergang: Wie wir uns gegen die digitale Vermüllung unserer Gehirne wehren. Droemer, München 2019 [keine Lektüre für denkfaule Menschen, auch nicht geeignet für die Minuten kurz vor dem Einschlafen — wenn man es mit Gewinn lesen will] Wer sich mit Medien, Journalismus und aktuellen Problemen der Wahrheitsfindung auseinandersetzt oder dies vorhat, landet genau richtig bei der Lektüre dieses Buches.
→ Nicole Seifert, Ein paar Herren sagten etwas dazu. — Eine wichtige Ergänzung zur Literaturgeschichte der BRD in der Nachkriegszeit, nicht nur für Feministinnen. Dazu Rezensionen z.B. hier: Nicole Seifert: „Einige Herren sagten etwas dazu“. Die Autorinnen der Gruppe 47 – Perlentaucher
→ Christian Stöcker, Männer, die die Welt verbrennen: Der entscheidende Kampf um die Zukunft der Menschheit. Berlin: Ullstein, 2024 — Wer sich nicht vorstellen konnte, dass viele Übel der gegenwärtigen Welt miteinander zusammenhängen und der Fortschritt von einflussreichen Männern mit den Weltbildern von gestern und vorgestern behindert wird, der bekommt hier wertvolle Hilfe zum Durchblick. Und wer diesen Durchblick mitvollzieht, begreift, warum auch in Deutschland Klimaschutz und Energiewende bewusst torpediert wurden und nur schleppend vorankommen. Es liegt schlicht am großen Geld, das mit dem Verbrennen fossiler Brennstoffe (Öl, Gas, Kohle) verdient wurde und wird, und dass die Profiteure lieber unsere Lebensgrundlagen weltweit zerstören, als von diesem toxischen Geschäftsmodell Abstand zu nehmen.
Entdeckungen
Man mag es kaum glauben, aber es gibt eine Reihe von Büchern, die einst durchaus gelesen wurden und bekannt waren, jedoch aus verschiedenen Gründen der Vergessenheit anheim fielen. Und es hat Menschen gegeben, die vergessene Bücher aus dem Schattenreich geholt und wieder bekannt gemacht und zu Ehren gebracht haben.
Ein frühes Beispiel, oben bereits erwähnt (→Weltliteratur), für solche Entdecker ist der Italiener Poggio Bracciolini, der im 15. Jahrhundert Reisen unternahm, um verschollene Werke der Antike aufzuspüren, und dabei in einem deutschen Kloster das letzte verfügbare Exemplar einer Abschrift des einst berühmten „De rerum natura“ von Lukrez fand und rettete. Stephen Greenblatt hat in seinem Buch „Die Wende“ thematisiert, wie daraus ein geistiger Schub für die Renaissance wurde.
Ein anderer Entdecker war der deutsche Schriftsteller Arno Schmidt (1914-1979), der nicht nur selbst schrieb, sondern als literarischer Außenseiter der frühen BRD Autoren aus dem angelsächsischen Sprachraum ins Deutsche übertrug, da er von seinen eigenen Veröffentlichungen nicht leben konnte. Arno Schmidt brachte dem deutschen Lesepublikum vergessene oder wenig beachtete Autoren nahe, z.B. den Amerikaner J.F. Cooper, von dem hierzulande nur der „Lederstrumpf“ in meist für die Jugend bearbeiteten Ausgaben bekannt war. Arno Schmidt warf auch einen neuen Blick auf die Werke Karl Mays, den man auch eher als Jugendbuchautor unterbewertete.
Arno Schmidt selbst, als bemerkenswerter deutscher Autor, könnte auch bald dem deutschen Lesepublikum aus dem Blickfeld geraten und in einer Spezialisten-Nische verschwinden. Dieses Schicksal erlitten auch schon Werke von Fritz Reuter (1810-1874), dem Arno Schmidt zu neuen Ehren verhelfen wollte.
Der Arno-Schmidt-Kenner Hartwig Suhrbier versucht, beiden, nämlich Schmidt und Reuter, die gebührende Ehre zu erweisen. Er schrieb nicht nur als Journalist über Arno Schmidt, sondern forschte auch über Fritz Reuter, den früher populären Autor seiner mecklenburgischen Heimat, und brachte einige Erkenntnisse zutage: Reuter wurde später teils in zensierten und verstümmelten Ausgaben verlegt, Viele schrieben bei ihm ab, und die Wenigsten kannten den Satiriker Fritz Reuter.
All dies floss in sein Buch „Der andere Fritz Reuter“ (2010) ein. Außerdem schrieb er für Kindlers Literatur-Lexikon (3. Aufl., Bd. 13, 2009) den hervorragenden Artikel über Fritz Reuter, der geeignet ist, Interesse für diesen Autor zu wecken und zu fördern, und ihn zu einer Entdeckung zu machen.
Suhrbier hat einen Teil seiner früheren Arbeiten über Arno Schmidt noch einmal hervorgeholt und 2018 zu einem Buch zusammengefasst: „Über Arno Schmidt & einige seiner Werke.“ Diese Veröffentlichung möchte ich ausdrücklich empfehlen: Sie bietet Noch-nicht-Fans einen Einstieg in die Welt des Autors Arno Schmidt, und Schmidt-LeserInnen so manches Schmankerl und so manche Information zur Bereicherung ihres Bildes von einem deutschen Schriftsteller der Sonderklasse.
S. R.
Wer Bücher liest, entwickelt immer auch eine mehr oder weniger ausgeprägte persönliche Beziehung zu einem Buch. So entdeckte ich für mich persönlich ein Buch, das schon länger in meiner Bibliothek schlummerte. Ich wollte einmal richtig abschalten von den vielen Sachtexten und den vielen negativen Nachrichten, mit denen ich mich befasst hatte, denn irgendwann braucht der Mensch auch wieder mal eine Aufheiterung und einen frischen Impuls von einer Seite, die er/sie lange vernachlässigt hat. Also, sagte ich mir, lenke dich ab und lies mal ganz was Anderes.
So begann ich „Das kunstseidene Mädchen“ von Irmgard Keun zu lesen und wurde gleich von der frischen, scheinbar einfachen und unbekümmerten Art zu schreiben hineingezogen in die Lektüre. Lange hatte ich kein Buch mehr so verschlungen wie dieses. Einfach toll.
Dabei erschien der Roman bereits im Jahr 1932. Er liest sich aber sehr modern, liefert zugleich ein wenig Zeitkolorit aus der Wirtschaftskrise der frühen 1930er Jahre, und das aus der Sicht einer Betroffenen, die sich irgendwie durchschlagen muss. Die Ich-Erzählerin Doris schreibt auf, was sie erlebt und was ihr durch den Kopf geht, und hat trotz (und auch wegen) fehlender „höherer Bildung“ einen nüchternen Blick auf das Leben, und auf die Männer. Gut, dass die Werke von Irmgard Keun (1905-1982) vor wenigen Jahren noch einmal aufgelegt wurden.
Kaum war das Buch erfolgreich auf dem Markt, kamen die Nazis an die Macht und zensierten Kunst, Musik und Literatur. Irmgard Keuns Romane landeten auf der Liste unerwünschter Literatur. Man fragt als heutige/r Leser/in, was die so schlimm an ihren Werken wie „Das kunstseidene Mädchen“ fanden. Es muss ihnen gegen den Strich gegangen sein, dass hier nicht das verkitschte Nazi-Rollenbild der Frau und das des Mannes propagiert wurde, dass im Gegenteil eine Frau einen kritischen und entlarvenden Blick auf Männer entwickelt hatte, dass sie sich eigenständig durch’s Leben zu schlagen suchte, dass sie ganz nebenbei auch mal den Antisemitismus als irrationales Vorurteil bloßstellte, dass sie überhaupt eine eigene Meinung hatte, die nicht auf Parolen und Schablonen basierte.
W. R.
Noch ein Beispiel zum Thema „Weltliteratur“ (siehe Beitrag weiter oben):
Viele haben vom altrömischen Philosophen Seneca (geboren um Chr. Geb.) gehört. Jüngst war zu erfahren, dass er bei vielen Menschen der Gegenwart wieder zu Ehren gekommen ist und sie von seinen Gedanken über Moral und den Menschen beeindruckt sind.
Ein schon zu seinen Lebzeiten viel gelesenes Werk ist De Vita Beata. Ich entdeckte es nach Jahren in meinem Bücherregal wieder, nachdem ich es im Jahre 1975 in einem Antiquariat erstanden (und zum großen Teil gelesen) hatte.
Dieses Buch ist eines näheren Blickes wert, schon äußerlich: Es erschien im Jahre 1946, zu einer Zeit kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, als in Deutschland das Papier knapp war. Der bescheidenen Papierqualität ist denn auch die materielle Beschaffenheit dieses Buches geschuldet: Das Cover (siehe Foto oben) ist aus nicht sehr stabiler Pappe gefertigt (und inzwischen von Licht teilweise gebräunt), aber immerhin geschmückt mit einer Prägung, die einen Fels in heftiger Brandung in einem runden Medaillon zeigt. Dies weist symbolisch auf ein zentrales Anliegen der Ansichten Senecas hin: Der Mensch soll sich nicht von Wellen und Wogen wetterwendischer Stimmungen um ihn her bestimmen lassen, sondern sich selbst eine begründete Meinung und Haltung bilden und darin seinen inneren Halt und seine ruhige Gelassenheit finden.
Seneca nimmt übrigens in seinem Buch den schon damals von Einigen geschmähten und missdeuteten Lukrez in Schutz. Lukrez habe keineswegs den schrankenlosen sinnlichen Genuss propagiert, das sei eher eine Schutzbehauptung derer, die sich gehen lassen und das durch eine philosophische Begründung verstecken bzw. aufwerten wollten. (Notabene: Später haben auch christliche Autoren Lukrez ähnlich kritisiert und verurteilt, ihm wurden Fake News angedichtet: ein liederlicher Lebenswandel, der angeblich in Verzweiflung und Selbstmord endete.)
Das Schöne an dieser Ausgabe der Vita Beata ist: Sie ist eine Textfassung mit Links-rechts-Übertragung. Links liest man den lateinischen Originaltext, rechts eine Übertragung ins Deutsche. Frau/man kann sich also im deutschen Text erst einmal über den Textinhalt informieren, und wer Lateinkenntnisse besitzt, kann auf der linken Seite die lateinische Formulierung vergleichen und daraus ggf. die ursprüngliche Bedeutungsspanne eines Begriffs herauslesen.
Was auch dem Lateinunkundigen auffallen dürfte: Der deutsche Text ist umfangreicher als der lateinische, die rechte Seite also enger bedruckt. Das macht augenfällig: Die lateinische Sprache (zumindest in der „klassischen“ Zeit des Latein) ist komprimierter im Ausdruck. Wie das? Etwa in ihren grammatischen Konstruktionen: Der ablativus absolutus z.B. verkürzt eine Aussage, für die wir im Deutschen einen ganzen Nebensatz bilden.
Wir kennen die heute oft im Juristendeutsch noch verwendete Redewendung „mutatis mutandis“, früher jedem Akademiker geläufig. Diese zwei Worte bedeuten: nachdem das zu Verändernde verändert worden ist. Sie wird eingesetzt, wenn zwei Dinge oder Sachverhalte verglichen werden und dafür Änderungen gedacht werden müssen, um die beiden wirklich vergleichbar zu machen. Klar: Hier wird die lateinische Formel gern zur Verkürzung gebraucht.
Heutzutage ist es nicht mehr angesagt, solcherlei lateinische Formeln oder Zitate in die Konversation einfließen zu lassen. Früher, um die Mitte des 20. Jahrhunderts, galt das noch als Ausweis höherer Bildung. Heute kann man sich damit eher als eingebildeter Sonderling outen. Schade. Denn auch die FUF zitiert in einem ihrer Leitsätze Seneca. Und mein persönliches Lieblingszitat von Seneca ist: „Natura enim duce utendum est.“ (Die Natur nämlich muss als Führerin gebraucht werden.)
W. R.
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