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Köln-Notizen #4

50Das zerbombte Köln 1945 – wer kennt sie nicht, diese Fotos von der verheerten Trümmerlandschaft, aus der nur der Dom scheinbar unversehrt herausragt? Die Innenstadt war nicht mehr wiederzuerkennen. Das Entsetzen steckte allen Kölnern in den Knochen, die den Krieg und seine Schrecken überlebt hatten und in ihre Heimatstadt zurückkehrten. Da war es für viele wohl ein zu großer seelischer Kraftakt, auch noch zuzugeben, dass sie die Katastrophe mitverschuldet hatten durch ihre Duldung oder Unterstützung des NS-Regimes.

Im Kölner Stadt-Anzeiger von heute, 08.07.2013, beschreibt Carl Dietmar ganzseitig den Umgang der Kölner mit dieser seelischen Belastung. Insbesondere geht er der Frage nach, wie es zu der Nachkriegslegende kam, Köln sei ein Hort des Widerstandes gewesen, in dieser Stadt habe es stärkere Vorbehalte gegen Hitler gegeben als in vielen anderen deutschen Großstädten. Dietmar stellt fest:

Die überwiegende Mehrheit der Kölner hat die NS-Herrschaft, wenn auch unter beispiellosem systemimmanentem und kollektiven Druck, mehr oder weniger widerspruchslos hingenommen – oder angepasst mitgetragen.

Im anschließenden Gespräch Dietmars mit Werner Jung, dem Leiter des Kölner NS-Dokumentationszentrums, liest man, dass die Aufarbeitung von Schuld bei der großen Masse schnell in den Hintergrund gedrängt wurde, weil man den Aufbau eines neuen, demokratischen Gemeinwesens angehen musste und nicht Millionen von „Belasteten“ wegen ihrer Parteimitgliedschaft in der NSDAP einfach ausschließen konnte: Es bestand eine personelle Kontinuität in fast allen Bereichen, und diese Kontinuität machte dann, erst recht in der Phase von Kaltem Krieg und Wirtschaftswunder, das konsequente Verdrängen der Vergangenheit möglich.

Carl Dietmar hat in einem früheren Artikel schon gezeigt, dass man im Kölner Karneval diese Widerstandslegende pflegte und dabei verdrängte, wie wenig tatsächlich der Vereinnahmung durch die Nazis entgegengesetzt wurde, und das auch eher nur im organisatorischen, formalen Bereich.

Wir, die wir heute in bequemer Distanz, mit mehr Hintergrundinformation und in einem völlig anderen gesellschaftlichen und politischen Umfeld urteilen können, sollten uns nicht zu einer schnellen, hämischen Verurteilung der damals erwachsenen Menschen hinreißen lassen. Verdrängung von unbequemer oder kaum zu ertragender seelischer Belastung ist ein menschliches Phänomen, das wahrlich nicht auf Köln oder die Nachkriegszeit beschränkt ist.

Noch in den Jahren um 2000 regten sich viele, vor allem ältere Deutsche über die damalige Wehrmachtsausstellung auf, die der Beteiligung regulärer Soldaten (nicht SS etc.) an Gräueltaten und Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg besondere Aufmerksamkeit widmete und damit der Legende entgegentrat, die Wehrmacht sei „sauber“ geblieben und habe sich nicht in die Verbrechen des Regimes verstrickt.

Das ist nicht auf Deutschland beschränkt, Menschen in anderen Ländern verdrängen solch unbequeme Wahrheiten auch ganz gern. Das ist z.T. eine Folge der üblichen Kriegspropaganda: Unsere Jungs kämpfen auf der richtigen Seite, wir sind die „Guten“, dagegen die zu Feinden erklärten Anderen die „Bösen“. Dieses Schwarz-Weiß-Schema ist eine Beleidigung für jeden intakten Verstand, hilft aber dem Oberkommando bei der Emotionalisierung der eigenen Bevölkerung, die dabei ihre eigene Erfahrung und Menschenkenntnis vergessen soll.

Als z.B. eine Fernseh-Dokumentaton der BBC über das Massaker von Srebenica (1995) nach 2000 im serbischen Fernsehen ausgestrahlt wurde, ging ein Aufschrei der Empörung durch das Land: Unsere jungen Helden haben so etwas nicht getan — sie haben nur für die heilige serbische Nation gekämpft!

Es hat einige Zeit gedauert, bis verständige Leute wenigstens einen Teil ihrer serbischen Landsleute davon überzeugen konnten, zumindest einen Teil dieser Verbrechen für wahr zu halten: Serbische Soldaten (bzw. Milizionäre) unter dem Kommando des Generals Mladic hatten ca. 8000 unbewaffnete männliche Personen aus Srebenica mitgenommen und auf einem Marsch im Gelände umgebracht (Näheres >Wikipedia >Massaker von Srebenica). Mladic befahl diese Aktion gezielt, um Feindschaft zu vertiefen und spätere Versöhnung zu torpedieren.

Menschen laden bisweilen Schuld auf sich, indem sie unkritisch einer Fahne hinterherlaufen und ihren Verstand ebenso wie ihren Fähigkeit zum Mitgefühl (Empathie) zurücklassen. Falls sie später Verstand und Empathie wiederfinden und zur Einsicht kommen, finden sie meist selbst schrecklich, wozu sie sich haben hinreißen lassen, und verdrängen es. Wenn nicht, zerbrechen sie an ihrer Schuld — oder bleiben fanatische Rechtfertiger der unter dieser Fahne begangenen Missetaten.

Der sinnvolle Weg zur Heilung dessen, was sich nicht ungeschehen machen lässt, ist die Aufarbeitung der Schuld, indem man sich den Tatsachen stellt, indem man, statt totzuschweigen, im Gespräch das Belastende benennt, sich damit auseinandersetzt, und lernt, damit zu leben. Das hört sich leichter an, als es für Betroffene ist. Darum flüchten Viele lieber in die Verdrängung. So gibt es z.B. immer noch Menschen, die den Holocaust leugnen oder die Zahl der Opfer nicht anerkennen wollen. Sie erkennen nicht einmal, dass sie selbst Opfer sind — von Täuschung und Selbsttäuschung.

Sich den Tatsachen stellen heißt auch: Wahrhaben, dass man Mitmenschen Empathie und menschliche Solidarität verweigert hat, dass man sie als „Feinde“ entmenschlicht und sie kaltherzig zu Opfern gemacht hat. Und dass man damit sich selbst ein Stück Menschlichkeit genommen hat.

W. R.

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5.6.1288 Schlacht bei Worringen

Zu diesem Er052faeignis erschien am 5.6.2013 im Kölner Stadt-Anzeiger ein ganzseitiger Artikel von Carl Dietmar, einem ausgewiesenen Kenner der Geschichte Kölns. Dieser Autor wird daher auch zu verschiedenen Fragen in DIE BEATUS CHRONIK zu Rate gezogen. In der Chronik selbst wird das Ereignis mit wenigen Sätzen behandelt (s.S.26, §55), der Chronist Beatus vergisst dabei nicht, auf den Treubruch der Kölner hinzuweisen: „Doch kurz vor einer wichtigen Schlacht (…) ließen die Kölner ihren Herrn im Stich, wechselten die Seiten…“ Auch Carl Dietmar beschreibt den plötzlichen Seitenwechsel als Vertrags- und Treubruch. Damit folgt er nicht der üblichen Bewertung der Schlacht, die den Treubruch eher übergeht und sie als Entscheidung für die Freiheit der Stadt Köln bejubelt. Dietmar weist zu Recht darauf hin, dass es nicht um Köln, sondern um die Machtverhältnisse am Niederrhein ging, und dass die Schlacht den Limburgischen Erbfolgekrieg entschied.

Dessenungeachtet feierte Köln sich als Mitsieger der Schlacht und stilisierte sie zum entscheidenden Ereignis der Stadtgeschichte im Kampf um Unabhängigkeit vom Stadtherrn, dem Erzbischof. Sogar eine Dankeskapelle für den Sieg wurde gebaut; ab 1309 führte der Rat am Jahrestag der Schlacht eine Prozession zur Bonifatiuskapelle und gedachte feierlich des Sieges.

An der Seite der kölnischen Abordnung kämpfte in der Schlacht im Kontingent des Grafen von Berg ein Haufen bergischer Bauern. Diese Bauern fielen durch ihr Verhalten aus dem Rahmen: Sie nahmen keine Gefangenen, um diese, sofern adelig und vermögend, später gegen Lösegeld freizugeben, vielmehr schlugen sie auf alles ein, was einen bunten Waffenrock trug, auf Freund wie Feind. War dies vielleicht ein frühes Beispiel von Klassenbewusstsein? Sahen diese Bauern in jedem Adligen einen Feind und potentiellen Unterdrücker?

Dietmar schreibt, die bergischen Bauern seien „mit den Regeln ritterlicher Kriegskunst nicht vertraut“ gewesen. Mag sein, dass niemand vor der Schlacht daran gedacht hatte, diese Bauern in einem „Briefing“ in diese Regeln einzuweisen. So gingen sie in die Schlacht, um zu schlachten. Auch deswegen lagen am Ende des Tages tausende Tote auf dem Schlachtfeld –  kein Grund zum Jubeln. Allerdings machten auch die Brabanter in einer kritischen Phase der Schlacht keine Gefangenen und töteten jeden Besiegten. Der Graf von Luxemburg lag am Ende mit seinen Brüdern ebenso unter den Toten wie eine große Zahl Adliger aus den Grafschaften Brabant, Berg, Geldern, Jülich, Limburg und dem Erzstift.

Großer Sieger ist Johann I. Herzog von Brabant, großer Verlierer (unter den Überlebenden) Erzbischof Siegfried von Westerburg.

Handfesten Nutzen haben die Kölner durch die Zerstörung der Zollburg des Erzbischofs in Worringen. Damit hatte Johann von Brabant sie auch geködert, ihrem Stadtherren in den Rücken zu fallen. Aus Kölner Sicht ist es wichtig, die Handelswege um Köln von zusätzlichen Zöllen freizuhalten. Wie die Kartenskizze zeigt, griffen die Kölner in jener Zeit mehrfach auch zu militärischen Mitteln, um Zollburgen des Erzbischofs zu beseitigen, teils im Bündnis mit dem Grafen von Jülich.

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Während Siegfried von Westerburg auf Schloss Burg gefangen saß, eigneten sich einige Kölner seine Besitzungen und Einnahmen in der Stadt an.

Zwei Jahre nach der Schlacht von Worringen tagte in Bonn ein päpstlicher Untersuchungsausschuss zum Treubruch der Kölner gegenüber dem Erzbischof. Köln zahlte die ziemlich hohe Geldstrafe nicht und wurde mit dem Interdikt (Verweigerung kirchlicher Amtshandlungen) belegt, das erst von Siegfrieds Nachfolger Wikbold von Holte 1298 im Zuge einer Aussöhnung mit der Stadt aufgehoben wurde. –

Inhaltlich gestützt auf Carl Dietmars o.g. Artikel und das Buch „Worringen 1288“ von Vera Torunsky, Köln 1988)

Eine weitere Leseempfehlung: Carl Dietmar, Kölner Mythen. Köln 1999, S. 22-31. Hier hält Dietmar nicht mit deutlichen Wertungen zurück, z.B. dieser: „In der sogenannten ‚Köln-Literatur‘ sucht man vergebens nach einem Hinweis auf die Rolle der Stadt als ‚lachende Dritte‘, die – skrupellos und vertragsbrüchig – einen Konflikt ausnutzte, der sie nichts anging.“ (ebda., S. 30)

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