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Angst essen Seele auf

ES fällt PolitikerInnen meistens leicht, über die Pflichten anderer Leute zu reden und von ihnen etwas zu verlangen — so auch am 03.11.25 Jens Spahn, Fraktionschef der Unionsfraktion im Deutschen Bundestag. Nachdem Außenminister Wadephul (CDU) persönlich die Zerstörungen in Syrien in Augenschein genommen hatte, sagte er, dass er momentan die massenhafte Rückkehr geflohener Syrer nicht für angesagt halte, wenn er das Ausmaß der Zerstörungen auch in der Infrastruktur sehe.
Dagegen brachte Spahn ins Spiel, es sei die „patriotische Pflicht“ der syrischen Flüchtlinge, zurückzukehren und beim Aufbau ihrer Heimat zu helfen.
Da wird manch ein Kenner der Realität in Deutschland spontan aufgestöhnt und sich an den Kopf gefasst haben: Wie kann Spahn so reden, wenn wir die syrische Ärzte, Pflege- und sonstige Fachkräfte in diesem Land brauchen!
Aber geht es überhaupt darum, den bald drohenden Kollaps unseres Gesundheitssystems zu verhindern — oder geht es nicht eher darum, kurzfristig populistisch auf Stimmenfang zu gehen und der in Umfragen starken AfD ein paar Stimmen abzujagen?
Was wir hier symptomatisch miterleben können, ist die abschüssige Bahn, auf die Deutschland gerät, wenn AfD-Parolen und ihre völkisch-ausländerfeindliche Grundausrichtung bei Wählern verfangen — und aus Angst vor Machtverlust in der Union aufgegriffen werden.

Ist es nicht außerdem unverschämt, Ausländern eine „patriotische Pflicht“ zu diktieren, wenn das erstens ihre eigene Sache ist, und wenn zweitens keine Rücksicht auf die tatsächlichen Verhältnisse in Syrien genommen wird? Und mir kommen da auch Zweifel, ob man bei einem durchaus nicht geeinten Syrien von einer homogenen Nation sprechen kann, für die sich alle Syrer selbstverständlich „patriotisch“ ins Zeug legen wollen oder sollen.

Da liegt überhaupt der Hase im Pfeffer: Manche PolitikerInnen hierzulande erzählen den Deutschen irgendwas über Syrer oder Menschen aus anderen Ländern, und das verfängt bei Vielen, weil sie uninformiert sind. So geht meist die AfD vor. Deren Vorsitzende Alice Weidel tönte sofort nach dem Sturz Assads, jetzt könnten alle geflüchteten Syrer umgehend zurückgehen, denn es gebe keinen Fluchtgrund mehr. Dabei wusste jeder informierte Zeitgenosse, wie es in vielen Teilen Syriens aussieht. Und unser Außenminister hat es sich vor Kurzem in Syrien live angeschaut. Da ist es völlig nachvollziehbar, dass er eine massenhafte Rückkehr der Flüchtlinge ausschließt, solange nicht abzusehen ist, wie und wovon sie dort leben sollen. Das ist so klar, dass man sich fragen muss: Was soll der shitstorm gegen Wadephul aus Teilen der Union?

Und da wir gerade bei diesem Thema sind: Immer noch ist der Umgang mit Afghanen beschämend, die nach Pakistan geflüchtet sind und eine Aufnahmezusage von Deutschland haben. Ich will mich nicht wiederholen, aber ich erinnere daran, was für einen schlechten Eindruck das macht, und was man international in Zukunft von Zusagen aus Deutschland halten wird — z.B. wenn wir mal wieder auf Hilfe von Ortskräften im Ausland angewiesen sein könnten.

Man kann Wadephul Empathie zugute halten, oder auch Vernunft und Realismus. Jedenfalls vermisse ich derzeit in unserer Regierung z.T. diese Eigenschaften, und darüber hinaus vermisse ich eine positive Strategie, wie man die Menschen hier von der Ablehnung populistischer Parolen überzeugt (statt die Populisten nachzuäffen).

Was dieses Land dringend braucht, ist eine positive Erzählung vom künftigen Leben in einem demokratischen, toleranten Deutschland.

Es hilft überhaupt nicht, den Leuten Sand in die Augen zu streuen und ihnen vorzugaukeln, alle Veränderungen der letzten Jahrzehnte in der Welt könnte man zurückdrehen oder außen vor halten. Das glaubt sowieso kein Mensch, der bei Verstand ist. Also muss „die Politik“ uns BürgerInnen positiv darstellen, wie wir mit der Zeit gehen und dabei keine schwerwiegenden Verluste erleiden, und wie wir auch Chancen nutzen, die sich aus Veränderungen ergeben.

Derzeit scheint eher das Prinzip „Angst essen Seele auf“ zu dominieren: Aus Angst vor den Rechtspopulisten gibt Deutschland seine tolerante, menschenfreundliche Seele auf und setzt aus kurzfristigen, wahltaktischen Motiven auf Angleichung an negative Erzählungen von Rechts, auf Abschottung, auf politischen Rückwärtsgang, auf fremdenfeindliche Kälte… Der Effekt ist keine Zurückdrängung der AfD, weil das Angleichungsverhalten eher eine Bestätigung der AfD als eine Bekämpfung ihrer Parolen ist.

Darum noch einmal: Verkündet endlich ein positives Bild, die Vision eines demokratischen Landes mit menschenfreundlichem Gesicht!

W. R.


Der Schaden ist angerichtet

WAS geschah am Freitag, dem 11.07.2025 im Berliner Reichstag? Drei neue RichterInnen für das Bundesverfassungsgericht waren von einem Sachverständigen-Ausschuss nominiert, vorgeschlagen von den Regierungsparteien. Gewählt sind sie erst, wenn der Bundestag mit Zweidrittelmehrheit dem Vorschlag zugestimmt hat. Das war früher meist eher eine Formsache. Diesmal aber wurde die Abstimmung sehr kurzfristig abgesagt, weil die Unionsparteien sich nicht sicher waren, ob nicht einige CDU-Abgeordnete ihre Zustimmung verweigern würden.
Die BesucherInnen dieser Website erinnern sich sicher noch an die Nachrichten, als das Thema die Schlagzeilen beherrschte und Ursachen und Folgen erörtert wurden, von dem schlechten Job des CDU-Fraktionsvorsitzenden Jens Spahn bis zu möglichen Ablehnungsgründen.
Unter den drei Kandidaten: die Top-Juristin Frauke Brosius-Gersdorf. Tage vor der geplanten Abstimmung kochte eine orchestrierte Welle hoch, eine Kampagne gegen die angebliche Befürworterin einer extrem liberalen gesetzlichen Abtreibungsregelung und Verfasserin einer angeblichen Plagiatsdoktorarbeit. Das alles stellte sich schnell als falsch heraus, reichte aber, um einigen CDU-Parlamentariern Bedenken wachsen zu lassen. Der Schaden ist angerichtet, das Parlament in die Sommerpause gegangen.
In der Nacht zum16.07. schrieb W. R. eine Mail an die CDU-Zentrale in Berlin mit folgendem Wortlaut:
Guten Tag, in Kürze gesagt: Wenn die Union sich von einer gezielten Social-Media-Kampagne treiben lässt und falsche Behauptungen ungeprüft zur Grundlage wichtiger Entscheidungen im Parlament macht, dann „Gute Nacht!“ parlamentarische Demokratie!
Ich rede nicht von einem möglichen Fehler von Herrn Spahn, darüber mögen Andere streiten. Ich frage mich, wie die Unions-Abgeordneten ticken, die sich in die Oppositionsrolle gegen die eigene Regierung begeben. (Bei der Kanzlerwahl tauchte die Frage schon einmal auf.) Ich dachte, das hätte es nur in der Ampel gegeben (mit der FDP).
Und davon abgesehen: Wo bleibt der Respekt vor einem Verfassungsorgan? Das läuft auf Wahlhilfe für die AfD hinaus…
Mit freundlichen Grüßen Wolfgang Reinert, Köln

Im Übrigen darf man gespannt sein, wie sich die Sache weiterentwickelt.
W. R.

Zwischenstand am 21.07.: Wahl der Bundesverfassungsrichter: SPD-Fraktion kritisiert Aussagen aus Union zur Verfassungsrichterwahl | DIE ZEIT

Zusatz am 23.07.2025: „Der Schaden ist angerichtet“ — das muss man auch an einigen anderen Stellen kritisieren. So wurde schon oft berichtet, dass die Behörden in Sachen Abschiebungen stur und mit dem Ziel von größeren Zahlen vorgehen, dabei menschliche Rücksichten hintanstellen und, trotz laufender Eilanträge vor Gericht, eilig Abschiebungen betreiben. Schlimmer noch: „Wir schieben die Falschen ab“, hieß es schon oft und seit Jahren, weil a) häufig gut integrierte Zugewanderte, teils sogar in Mangelberufen tätig, rigoros aus formalen Gründen abgeschoben werden, und weil b) offensichtlich Schutzbedürftige aus fadenscheinigen Gründen ins Flugzeug gesetzt werden, wie zuletzt eine Jesiden-Familie mit vier Kindern (Wir erinnern uns: Jesiden sind Opfer des IS-Völkermords, sofern sie nicht versklavt wurden).

Solches Vorgehen ist nicht gerade geeignet, das Vertrauen in Behörden und die EntscheiderInnen in der Politik zu stärken. Offenbar wird in Deutschland die Befolgung von Vorschriften und Vorgaben „von oben“ prinzipiell höher bewertet als dem Einzelfall angemessene Entscheidungen mit gesundem Menschenverstand. Hinzu kommt leider „oben“ eine Tendenz zu Populismus und Symbolpolitik nach dem Motto: War der Straftäter ein Zugewanderter? Wenn ja, rufen wir sofort eine Verschärfung von Grenzkontrollen und der Flüchtlingspolitik aus. So läuft es — man könnte argwöhnen: nach dem Vorbild von Trumps gnadenloser Hetzjagd gegen „illegale Einwanderer“.

Meine Unterstützung für diese Haltung habt Ihr NICHT!

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