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Putin verstehen

ES gibt eine neue Herausforderung für Putin-Versteher und Friedens-Idealisten: Putin lässt einen Tag vor einem Nato-Gipfeltreffen mitten in Kiew das größte Kinder-Krankenhaus der Ukraine aus der Luft angreifen und z.T. zerstören. Jetzt, bitte, erklärt mal, warum Ihr für Putin seid und gegen Waffen- (und Luftabwehr-) Lieferungen an die Ukraine. Wo ist Eure moralische Basis, wo Euer Verstand angesichts dieser Fratze des russischen Regimes?
Und kommt mir bloß nicht mit irgendwelchen Ausflüchten, die der Nato oder sonstwem die Schuld an dieser bestialischen Kriegführung zuschieben wollen. Putin hat schon in Syrien vor vielen Jahren gezielt Kankenhäuser, Schulen etc. in „Rebellengebieten“ bombardieren lassen. Das hatte nichts mit Verteidigung irgendwelcher Interessen an Russlands Grenzen zu tun, wie ein Blick auf die Landkarte zeigt. Putin ging es nur darum, den blutigen Diktator Assad in Syrien an der Macht zu halten — um russischen Einfluss auf die Region nicht zu verlieren. Moral spielte auch da absolut keine Rolle. Zum Machterhalt ist eben alles erlaubt, wirklich alles, so glauben diese Diktatoren.
Bei Putin braucht es keine Enthüllungen von Verfehlungen oder Kriegsverbrechen durch Wikileaks oder andere, denn er legt selbst Wert darauf, dass man seine brutale Fratze sieht und ihm alles zutraut. So will er unter seinen Kritikern, Gegnern und Feinden maximalen Schrecken verbreiten. Deswegen treibt er auch seine Soldaten in der Ukraine zu brutaler Behandlung von Gefangenen wie Zivilbevölkerung an. Das Entsetzen soll als zusätzliche Waffe wirken. Niemand soll hoffen. dass moralische Fragen bei Putin eine Rolle spielten.

Also, Ihr seht: Ich bin ein wahrer Putin-Versteher.

W. R.



Mehr als nur ein bisschen Frieden

Viele Menschen bewegt die Frage: Was ist in der Welt los, wenn gewaltaffine Machthaber zunehmend die Weltpolitik beeinflussen, wenn ihre Kritiker und Gegner gefangen gehalten, gefoltert, umgebracht werden, wenn Machthaber in Wahnvorstellungen von einer Großmachtstellung oder Weltherrschaft Kriege anzetteln und Nachbarländer überfallen… ?
Seht Euch das Gebaren dieser Machtpolitiker an: Vor Kameras spielen sie den „Starken Mann“, der alles (und noch mehr) im Griff hat und jeden Widerstand platt macht. Diese autoritären Herrscher und Diktatoren haben sich mit Hilfe des Militärs an die Macht geputscht oder nach einer Karriere im Geheimdienst mit allen dort erlernten Mitteln und Tricks sowie Seilschaften alter Kollegen an die Macht gedrängt.
Damit ist nicht hinreichend erklärt, warum es viele solcher Typen gibt und warum Viele ihnen nacheifern und Macht über Menschlichkeit stellen, ja sogar letztere ganz aus den Augen verlieren. Diese Typen glauben, es sei gerade die Rücksichtslosigkeit, die sie nach oben bringe. Und sie bilden sich ein, dafür besondere Bewunderung zu verdienen, weil sie auf ihre speichelleckende Entourage hören. Es wäre besser für unsere Gesellschaft und für die Welt überhaupt, wenn sich viel mehr Leute einig wären, solches Verhalten zu ächten und nicht nur moralisch fragwürdig zu finden.

Wer, um seine Macht zu vergrößern, keine Skrupel kennt und auch nicht danach fragt, was es den betroffenen Menschen bringen soll, an einer Front verheizt zu werden in einem Krieg, der den meisten Menschen im Land der Angreifer rein gar keinen Vorteil bringt, der gehört geächtet und vor ein Gericht gestellt. Und das Land der Angegriffenen sollte jede Unterstützung bekommen, den Angreifer zurückzuschlagen, um den Schaden zu begrenzen und weitere Schäden zu verhindern.

Was bringt es denn dem einzelnen Staatsbürger, sich für aggressive Politik einspannen zu lassen? In Deutschland gibt es wahrlich genug historische Beispiele vom Dreißigjährigen Krieg bis zum Zweiten Weltkrieg, die uns klar machen: Krieg ist Mist. Und in der Regel brechen Kriege nicht aus, sondern werden mit Absicht riskiert oder sogar angezettelt. Manchmal aus männlicher Ehrenpusselei, mal als Ausflucht vor Kritik im Inneren, mal aus plattem Kalkül der Machtgier und der Aussicht auf reiche Beute, etc.

Krieg ist aber auch für die Mächtigen riskant, die sich daraus Vorteile versprechen. Wie die Geschichte zeigt, werden selten die Vorstellungen erfüllt, die sich Angreifer ausgerechnet oder erhofft haben. Schon Herodot, der erste Historiker der Griechen, berichtet von einem König, der ein Nachbarland angreifen wollte und vorher ein Orakel über seine Erfolgsaussichten befragte. Die Antwort: „Wenn du diesen Krieg beginnst, wirst du ein großes Reich zerstören.“ Das nahm er erfreut als Verheißung auf und griff an. Doch das Resultat war: Er wurde geschlagen, das Reich, das er zerstörte, war sein eigenes.

Denken Sie selbst an Beispiele, Sie finden sicher welche von Kriegen, die für die Angreifer im Desaster endeten. Historische Studien haben festgestellt: Krieg verläuft nie nach Plan.

Auch aktuell sehen wir, dass Putins Plan für seinen Eroberungskrieg gegen die Ukraine nicht aufging. Niemand bestreitet, dass sein „Blitzkrieg“-Vorstoß auf Kiew im Desaster und mit Rückzug endete. Und dass ab März 2022 der Krieg anders verlief, als russische Militärs sich das gedacht hatten. Was den weiteren Kriegsverlauf betrifft, so treten in unseren Medien immer wieder Militärexperten und auch selbsternannte Experten auf, die wissen wollen, was für die Zukunft zu erwarten sei.

Darunter sind Stimmen, die verkünden, dass Russland diesen Krieg gar nicht verlieren könne, weil es ein so großes Land sei. Das klingt in meinen Ohren oberflächlich, wenn nicht naiv. Wer keine Ahnung von militärischen und kriegslogistischen Dingen hat, neigt vielleicht dazu, so etwas für überzeugend zu halten. In diesem Krieg sind aber bisher schon einige Dinge passiert, die manche Pessimisten nicht für möglich hielten, weil sie die Ukraine von vorneherein für hoffnunslos unterlegen hielten.

Manchmal beschleicht mich das Gefühl, die Unterstützung aus westlichen Ländern für die Ukraine kam (aus was für Gründen auch immer) nicht zügig und konsequent, man debattierte (vor allem bei uns) über Waffengattungen und ihre Wirkungsweise, man äußerte Furcht vor Eskalation, man wollte Putin nich reizen…. Dabei war es doch Putin, der keine Rücksicht auf irgendwen nahm und diesen Krieg vom Zaun brach. Und Putin drohte und droht immer wieder mit Eskalation durch Einsatz von Nuklearwaffen.

Immer noch fordern Friedensbewegte, unsere Regierungen sollten mehr „die hohe Kunst der Diplomatie“ nutzen und weniger von Waffenlieferungen reden. Dazu fällt mir zuerst immer das Foto aus dem Kreml ein, wo im Februar 2022, einige Tage vor dem russischen Angriff, Kanzler Scholz zum Gespräch mit Putin an einem Tisch sitzt, und Putin hat ihn sich an einem absurd langen Tisch gegenüber gesetzt. Das war schon die symbolische, bildliche Verhöhnung aller diplomatischen Bemühungen, Putin vom Krieg abzuhalten. Putin, der Machtmensch, zeigt das auch gern in Bildern.

Unsere Friedenbewegten im Lande greifen ständig unsere Regierung und „den Westen“ wegen „zuwenig diplomatischer Benühungen“ an, reden aber fast gar nicht von der Gegenseite am Verhandlungtisch. Und da kommen wir wieder an den Anfang, an den nicht vorhersehbaren Verlauf von Kriegen. Gegen die historische Erfahrung wird behauptet, die Fortsetzung der Unterstützung für die Ukraine sei sinnlos, man müsse sofort über Waffenstillstand verhandeln. „Jeder Krieg endet am Verhandlungstisch“, riefen sie. Ja, aber was muss passieren, damit überhaupt verhandelt wird?

Solange Putin sich von der Fortsetzung des Krieges mehr verspricht als von einem Waffenstillstand, wird er nicht ernsthaft in Verhandlungen eintreten wollen. Leider war die Unterstützung der Ukraine nicht so konsequent, wie sie hätte sein müssen, damit Putin militärisch Niederlagen erlitten hätte. Nur das hätte ihn umstimmen können.

Darüber hinaus muss man sich klarmachen: Der Charakter Putins und seines Herrschaftsapparates ändert sich nicht, wenn er irgendwelche Vereinbarungen über Waffenstillstand oder Frieden unterschreibt. Das ist ja nach wie vor Fakt: Putin hat gezeigt, dass er Vereinbarungen und Verträge ignoriert, wenn es ihm Vorteile bringt. Darum ist mit seiner Unterschrift noch nicht viel gewonnen. Einen Frieden bekommen wir erst, wenn er effektiv eingebunden wird in ein Sicherheitssystem, das in Europa wieder stabile Grenzen und deren Respektierung schafft.

Ich halte es für eine Illusion zu glauben, dass Russland seine imperialen Ziele aufgeben wird, nachdem Putin schon die Geschichtsbücher für die Jugend umschreiben ließ und ständig Propaganda für seine Vorstellung der „russischen Welt“ macht. Wenn einer schon Stalin (!) als Vorbild wiederbelebt und seine Soldaten Gräueltaten unter Zivilisten begehen lässt (Die Einheit, die in Butscha viele zivile Tote auf den Straßen zurückließ, wurde von Putin persönlich vor Fernsehkameras mit Orden belohnt), was soll man da für die Zukunft erwarten?

Zu erwarten ist, dass Putins Saat des imperialistischen Denkens in Russland auch auf lange Sicht aufgehen wird, dass sein Werteprinzip der rücksichtslosen Gewalt die russische Gesellschaft nachhaltig prägen wird, dass also Russland nicht als friedensstiftender Faktor in Europa wirken wird (egal, wie der aktuelle Krieg in der Ukraine beendet wird). Wer jetzt der Ukraine die Unterstützung entziehen will, ist entweder politisch naiv oder von Putins Propaganda eingenommen. Beides läuft auf eine Unterwerfung unter die Herrschaft von Putin hinaus. Dies sollten alle bedenken, die glauben, ein schneller Waffenstillstand und Frieden mit Putin um jeden Preis sei das Gebot der Stunde.

Im Übrigen finde ich es unverschämt, wenn „Friedenstauben“ der Ukraine nahelegen, auf Gebiete zu verzichten, damit Ruhe einkehre. Ruhe für wen? Ihr könnt nicht Putin Gebiete schenken, die Euch gar nicht gehören! Putin hat sich schon widerrechtlich Teile der Ukraine angeeignet und dort „Russifizierung“ mit all ihren hässlichen Konsequenzen begonnen. Das wollt Ihr ihm durchgehen lassen und ihm auch noch eine Belohnung geben? Für ein bisschen (vorläufigen) Frieden? Glaubt Ihr denn, danach könntet Ihr ruhiger schlafen? Das ist in meinen Augen Traumtänzerei.

Offensichtlich geht es um viel mehr als nur um die Frage, wie man den aktuellen Krieg in der Ukraine beendet. Es geht nicht um ein bisschen Frieden, um eine Atempause zu haben, während Putin weitere Ziele auf dem Kartentisch absteckt. Es geht um eine stabile Friedensordnung, in der wirklich Friede in Europa einkehrt — und bleibt.

W. R.

Blick nach vorn

AM 23. Mai 2024 wurde offiziell gefeiert, dass unsere Verfassung, das Grundgesetz, vor 75 Jahren verkündet wurde und in Kraft trat. 1949 hatte man Lehren aus der Zeit der Weimarer Republik, der Nazi-Zeit und dem Zweiten Weltkrieg gezogen und diese in die Verfassung eingearbeitet — auf der Grundlage der Menschenrechte. Damit bekam (damals nur West-) Deutschland eine Verfassung, die man in historischer Perspektive als die beste, d.h. freiheitlichste sehen muss, die je auf deutschem Boden in Kraft trat.

Es gibt aber auch Menschen, die den Blick zurück wenden und mit soviel Freiheit offenbar überfordert sind. Sie möchten lieber gegängelt werden, sie wollen Entscheidungen lieber mächtigen Autoritäten überlassen, sie wollen einen „starken Mann“ an der Spitze des Staates bewundern und im Gleichschritt hinter ihm hermarschieren, egal wohin. Bloß nicht viel denken und mitentscheiden müssen! Wie soll mit so gestrickten Gemütern eine Demokratie funktionieren, die diesen Namen verdient?

Putin setzte in Russland vor etlichen Jahren den Begriff „gelenkte Demokratie“ in Umlauf, um seinen Weg in die Diktatur zu vernebeln (Unser G. Schröder hatte Putin geholfen, indem er ihn in einem Interview als „lupenreinen Demokraten“ bezeichnete). Allen musste klar sein: Putins Worthülse sollte für Verwirrung sorgen, denn eine echte Demokratie wird nicht von jemandem gelenkt. Darüber hinaus ist eine Demokratie nicht bloß durch Wahlen definiert, sondern z.B. auch durch Meinungsfreiheit und Gewaltenteilung… Ihr wisst schon. Dennoch benutzen Autokraten und Diktatoren gern das Instrument von Wahlen, wenn sie zuvor dafür gesorgt haben, dass keine Opposition eine Chance hat.

Hierzulande gibt es, wie gesagt, Menschen, die sich für so ein Modell Putin erwärmen und auch Chinas Diktatur nicht schlimm finden. Dabei wäre die Frage, ob das auch so bliebe, wenn sie morgen in einem solchen System leben müssten, wo sie nicht mitentscheiden dürfen, was von oben befohlen, erwünscht, erlaubt und verboten ist.

Aber reden wir nicht länger von Leuten, die sich in eine schöngefärbte Vergangenheit zurücksehnen, die es so nicht gab und die es auch nicht geben wird. Wenden wir den Blick nach vorn! Was brauchen wir denn in einer Welt, die schon zwei Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts erlebt hat und vor Problemen steht, von denen man eins sicher sagen kann: Sie werden nicht mit Mitteln und Methoden aus Opas Mottenkiste gelöst. Das hat z.B. ein Putin schon zu spüren bekommen: Mit seinem „schnellen“ Eroberungskrieg in der Ukraine ist er auf den Bauch gefallen. Und was Hitler nicht geschafft hat, wird auch Putin nicht schaffen: Sie konnten die Welt nicht davon überzeugen, dass das „Recht des Stärkeren“ alles Recht in den internationalen Beziehungen schlägt… zumal beide sich verrechnet haben, was die Gegenwehr angeht. Auch Putin wird die Puste ausgehen, schon jetzt hat er sein „Großrussland“ politisch von China abhängig gemacht. Wirtschaftlich ist er auf dem Holzweg, wenn er glaubt, die meisten Länder würden in Zukunft von seinen Rohstofflieferungen (Öl, Gas, Uran-Brennstäbe) abhängig sein. Das Verbrennen fossiler Energieträger ist ein Auslaufmodell, die russische Wirtschaft muss sich baldigst umorientieren.

Aber auch Deutschland kann sich nicht auf Lorbeeren der Vergangenheit ausruhen. Der ehemalige „Exportweltmeister“ muss sich auch veränderten Bedingungen anpassen, z.B. was die Elektromobilität betrifft. Aber dieses Thema wollen wir an dieser Stelle nicht vertiefen. Wichtig ist, dass wir erkennen: Man muss mit der Zeit gehen, nichts bleibt auf ewig, wie es ist.

Und da wir eingangs über das Jubiläum „75 Jahre Grundgesetz“ sprachen, fragen wir uns auch, ob dieses Grundgesetz in allen Teilen so bestehen kann, wie es konzipiert wurde. Müssen wir nicht von Zeit zu Zeit überlegen, ob diese Verfassung veränderten Bedingungen und neuen Herausforderungen angepasst werden muss? Das geschieht ja auch manchmal, es gibt Änderungen, und es gibt Ergänzungen, die im Laufe der Jahrzehnte vom Bundestag mit der nötigen Zweidrittel-Mehrheit beschlossen wurden. Denn es ist klar, dass die Mütter und Väter des Grundgesetzes 1948/49 nicht alles vorhersehen konnten, was in Zukunft zu klären und zu regeln sein würde.

Wenn wir den Blick nach vorn richten, können wir uns natürlich auch Gedanken darüber machen, ob und wie unser Grundgesetz auf neue Entwicklungen und Herausforderungen eingestellt werden soll. Darüber hat sich auch Renan Demirkan zum Jubiläum ihre Gedanken gemacht und in einem Artikel formuliert. Dieser ist auf jeden Fall lesenswert, wenn man Denkanstöße schätzt und sich mit Vorschlägen auseinandersetzen möchte, die den Blick nach vorn richten. > Kölner Stadt-Anzeiger e-paper

W. R.

German Angst?

Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, einen ruhigen Abend in meiner Stammkneipe zu genießen und mich auch beim Abendessen nicht stören zu lassen. Das lief auch gut an, bis die Runde der Stammgäste am Tresen sich zusammenfand. Ich hatte mir fest vorgenommen, in diesem Falle wegzuhören und mein Ohr nicht wieder der Diskussion am Tresen zu leihen. Doch bald war ich doch wieder dabei, die Debatte zu verfolgen, weil sie mich inhaltlich interessierte. Ich bekam nicht mit, wer welche Meinung vertrat, wollte ja auch gar nicht hinhören und -sehen, aber soviel hörte ich trotzdem:

„Also, dat wär ja ein Ding, mit dem Scholz mich positiv überraschen würde: Wenn die Ukrainer plötzlich mit ein paar Taurus-Marschflugkörpern den russischen Nachschub an die Front unterbrechen würden! Die aktuelle Lage im April 2024 gibt das her, es wäre ein starkes Zeichen für Umdenken des Kanzlers angesichts der veränderten Lage. Was würde passieren? Die Russen könnten ihre befürchtete Offensive auf Charkiv nicht wie geplant durchführen und müssten sie verschieben — und genau das braucht die Ukraine jetzt dringend, nämlich die Zeit, bis die endlich beschlossene Hilfe aus den USA vor Ort eintrifft. Ist ja gut, dass sich Scholz in Europa für weitere Lieferungen von Luftabwehrsystemen stark macht. Aber die Ukraine braucht zurzeit mehr. Und ich würde Scholz demnächst wieder wählen, wenn er diesen Schritt… “ —
„Nun stopp mal, das geht zu weit! Er hat Taurus nicht liefern wollen, und ein Großteil seiner Partei findet das gut, ich übrigens auch! Russland ist immerhin Atommacht, die darf man nicht leichtfertig reizen.“ —
„Moooment mal! Das ist ein sehr fragwürdiges Argument. Vor allem streut das die russische Propaganda immer wieder, weil es gerade in Deutschland Eindruck macht. Besonders in der SPD glaubt man, der eigene Markenkern in der Außenpolitik sei Willy Brandts Friedenspolitik. Kann man glauben, geschenkt! Das muss aber nicht im 21. Jahrhundert weiterhelfen. Im Kalten Krieg hatten wir eine in vieler Hinsicht andere Weltlage. Was damals gut lief, kann man nicht 1:1 auf heute übertragen. Und wir haben ja schon erfahren müssen, dass Russland heute nicht so handelt wie die Sowjetunion damals. Deswegen haben sich doch Viele getäuscht und sich von Russlands billigem Gas abhängig gemacht.“ —
„Das war doch unter Merkel von der CDU!“ —
„Ja, und wer saß mit am Kabinettstisch? Wir hatten die GroKo von CDU und SPD. Schon vergessen?“ —
„Hört auf damit, jetzt geht’s um heute und morgen! Allerdings sind in der SPD und anderswo noch nicht alle Friedenstauben aufgewacht und meinen immer noch, sie könnten verhandeln statt Kriegführung unterstützen. Dabei wollen sie nicht wirklich auf die militärischen Notwendigkeiten blicken — wohl auch, weil sie sich nur mit Friedensideen befassen, aber keinen Schimmer vom Verlauf und den möglichen Wendungen von Kriegen haben. Putin hat es ja klar gesagt: Bei der gegenwärtigen, für ihn aussichtsreichen Lage sieht er keinen Grund zu Verhandlunngen.“ —
„Eben, und daran könnten einige Taurus-Einschläge an den richtigen Stellen etwas ändern. Das heißt: Erst wenn die Lage aus Putins Sicht nicht mehr aussichtsreich ist, sondern ihm die Kontrolle auch über annektierte Gebiete entgleitet, erst dann können wir mit Verhandlungsbereitschaft rechnen. Dann nämlich hätte Putin Angst, noch mehr zu verlieren, und würde sich beeilen, das Erreichte zu sichern — bevor er womöglich weggeputscht wird. Darum geht es doch.“ —
„Das sehe ich auch so. Und ich bezweifele, dass Putins Umfeld ihm allein den Roten Knopf überlassen wird, um Atomwaffen einzusetzen. Russland würde sich politisch weitgehend isolieren, vor allem von China.“ —
„Da ist was dran. Übrigens hat der Iran schon mal US-Militäreinrichtungen im Mittleren Osten angegriffen, obwohl die USA eine starke Atommacht sind. Und, haben die USA einen Atomwaffen-Einsatz auch nur angedroht? Haben sie nicht. Bei uns tun aber Einige so, als säße Putin mit nervösem Finger am Roten Knopf im Kreml. Das kommt vor allem von Leuten wie Sarah Putinknecht.“ —
„Die schüren die German Angst, wie das im Ausland oft spöttisch heißt. Putin gefällt das. Der alte Geheimdienst-Fuchs weiß genau, wie man Leute einschüchtern und in Angst versetzen kann. Nur muss das Opfer auch mitspielen und sich einschüchtern lassen. Wirklich Angst haben müssen doch die Leute, die Putin offen kritisiert haben und im Gefängnis landen, oder ins Ausland fliehen. Sie sind nirgendwo sicher.“

Ich hatte meine Zeche bezahlt und verließ das Lokal, während am Tresen Einer eine Runde gab, und alle sich zuprosteten und weiter friedlich im Gespräch blieben. Das war das Sympathische an dieser Runde: Selbst wenn sie verschiedener Meinung waren und sich stritten, waren sie sich einig darin, hier nur Meinungen und Argumente auszutauschen und niemanden persönlich für seine Meinung anzufeinden. Und deshalb trafen sie dort immer wieder zusammen und genossen einen angeregten Abend.

W. R.


Glaubwürdig bleiben

ES ist ermüdend. Ein pazifistisches Mantra soll bewirken, dass die Realität es sich anders überlegt und sich an den Glaubenssätzen von Pazifisten orientiert.

Da wäre z.B. das Mantra: „Diplomatie statt Waffenlieferungen.“ Die Vorsitzende der neugegründeten Partei BSW hatte ein Schild mit diesem Slogan neulich vor ihr Rednerpult geklebt. Sie und andere kritisieren, dass beim Krieg in der Ukraine nur vom Militärischen, aber fast nie von Diplomatie und Verhandlungen die Rede sei. Dabei wird zunächst allen weniger Informierten vorgespiegelt, es gäbe keine diplomatischen Bemühungen um Waffenstillstand und Friedensverhandlungen; des weiteren wird ignoriert, dass Diplomatie sich oft hinter den Kulissen bewegt und sich daher gerade nicht für alle sichtbar im öffentlichen Raum abspielt.

Die pazifistische Argumentation lässt auch einen wichtigen Grundsatz außer Acht: Man kann einen Krieg nur verhindern, bevor er begonnen hat. (Ich vermeide das Wort „ausbricht“, weil Krieg im Unterschied zu einem Vulkanausbruch immer von Menschen herbeigeführt wird und kein unvermeidliches Naturereignis ist.) Ist ein Krieg erst in Gang gekommen, stoppt ihn so schnell keine Diplomatie, weil sich mindestens eine der Konfliktparteien Chancen ausrechnet, militärisch Vorteile zu erlangen, wenn nicht gar den Krieg zu gewinnen.

Kriegsherr Putin setzt derzeit darauf, dass die Zeit für ihn arbeitet, weil a) der Westen der Ukraine nicht genug Munition und Waffen liefert, b) die von Trump gelenkten Republikaner im US-Kongress weiter die Hilfen für die Ukraine blockieren, c) die kommenden Wahlen in den USA Trump direkt an die Macht bringen könnten. (Man unterschätzt dabei weithin die Wirkung der Wühlarbeit von Putis Trolls im Netz, besonders in den social media.)

Wohlgemerkt: Pazifismus ist eine moralisch ehrenwerte Haltung. Es kann aber schwierig werden, diese Haltung in der Wirklichkeit durchzuhalten, wenn die Zeichen auf Konflikt stehen und gewalttätige Auseinandersetzungen drohen. Der S.R. selbst nahm 1981-83 an Demonstrationen gegen die Nato-Nachrüstung teil, seit damals hat sich die Welt ein deutliches Stück weiter gedreht. Das bedeutet, dass er längst nicht mehr ungeprüft an früheren Glaubenssätzen und politischen Einschätzungen festhält, sondern Manches überdacht hat und seinen Blick nicht Ideologien unterordnet, die vor 40 Jahren im Kalten Krieg Bedeutung hatten.

Es scheint angebracht, klar und deutlich zu sagen: Es tobt ein globaler politischer und kultureller Kampf zwischen Autoritarismus und freiheitlicher Gesellschaft. Manche sagen auch einfach: zwischen Diktatur und Demokratie. Putin steht für Diktatur, für seine persönliche Herrschaft über Russland, und diese Herrschaft will er nicht nur durch Niederschlagung jeglicher Opposition, sondern auch durch Konflikte und Kriege stabilisieren, weil er damit die Bevölkerung nötigt, ein nationales Interesse mit seiner Position als Machthaber zu verknüpfen. Putins Mantra: Die Nato, der Westen bedroht uns, wir müssen zusammenstehen und uns wehren.

Was Putin in seiner jüngsten Rede zur Lage der Nation sagte, enthielt nichts Neues. Seine Propaganda sagt Dinge über „den Westen“, die man größtenteils durch „das russische Regime“ ersetzen kann, damit sie stimmen. Er hat kein Problem damit, Fakten auf den Kopf zu stellen und russische Kriegsverbrechen zu leugnen. Er bemüht sich in mehrfacher Hinsicht, Stalin nachzueifern, am liebsten wäre ihm der Name „Wladimir der Schreckliche“ in den Geschichtsbüchern (die er ohnehin schon umschreiben lässt.)

Wo ist der reale Ansatz der pazifistisch Gesinnten, mit Putin ins Gespräch oder gar in Verhandlungen zu kommen? Wer fordert, wir sollten bedingungslos die Waffenlieferungen an die Ukraine einstellen, der meint Kapitulation auf Kosten der Ukraine. Muss man dazu mehr sagen?

Aber es käme ja noch viel schlimmer: Die Ukraine ginge unter, Putin würde maßlos triumphieren und im Hochgefühl seiner Popularität die nächsten „Spezialoperationen“ in Angriff nehmen. Das glaubt Ihr nicht? Ja, könnt Ihr denn nicht weiterdenken? Und China würde sich ermutigt fühlen, schnell Taiwan militärisch einzunehmen, das wäre ein Riesenerfolg für Diktator Xi.

„Der Westen“ würde weltweit als Verlierer betrachtet, seine Werte von Menschenrechten und Demokratie würden von keinem Land mehr ernst genommen. Das Verhältnis von Diktaturen zu Demokratien würde vollends zu ersteren kippen. Folge: Die Welt würde noch mehr zersplittert in zahlreiche gewaltbereite, nationalistische Regime, die mit anderen Ländern nur noch Zweckbündnisse auf Zeit eingehen.

Ideologisch würden diese Verhältnisse fußen auf dem Prinzip „Kampf jeder gegen jeden“, die Nationalismen würden Feindschaften wachsen lassen, überall würde man die Unterschiede und das Trennende thematisieren und Gemeinsamkeiten beiseite wischen. Faschismus würde sich in der Welt ausbreiten.

Nun meinen sicher Einige: Das ist doch übertrieben, das geht viel zu weit. Ich aber sage: Wer weiterdenkt und Kenntnisse aus der Geschichte einbezieht, wer sich wenigstens erinnert, dass sich vor dem 24.02.2022 niemand bei uns den Überfall Russlands auf die Ukraine vorstellen konnte oder wollte, der müsste vorsichtiger sein mit optimistischen Prognosen.

Darum stimme ich der These zu: Die Ükraine verteidigt nicht nur ihr Land, sie kämpft und blutet auch für uns, indem sie Putins Eroberungskrieg zu stoppen versucht und das Europa der freiheitlichen Lebensweise verteidigt. Putin darf nicht gewinnen, und mehr noch: Putin muss eine Niederlage einstecken, die Ukraine muss siegen. Und das gerade auch aufgrund unserer Hilfe — damit wir in der Welt glaubwürdig bleiben.

S. R.

Dazu noch ergänzende Beiträge auf diesen Links:

Republikaner stoppen Ukraine-Hilfe: Wladimir Putins Saat geht auf – Kolumne – DER SPIEGEL

Ukraine-Krieg Der deutsche Mittelweg ist gescheitert – Gastbeitrag – DER SPIEGEL

zu Putis speziellen Geschichtsverweisen: Wladimir Putin: Früherer mongolischer Präsident Tsakhiagiin Elbegdorj trollt Kremlchef mit Landkarte – DER SPIEGEL

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Trump, Putin und die wahre Wahrheit

WER wusste noch nicht, was „Populismus“ ist? Gerade hat Donald Trump nochmal als Beispiel eine Äußerung rausgehauen, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt. Bei einem Wahlkampfauftritt behauptete er, einem europäischen Präsidenten gesagt zu haben: Wenn Ihr Eure Rechnungen nicht bezahlt (d.h. mindestens 2% des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung ausgebt), dann verteidigen wir euch auch nicht, und „dann ermutige ich einen Angreifer zu tun, was immer er tun möchte.“
Dieser Kraftspruch, der vorgibt, Trump könne von jetzt auf gleich den Nato-Vertrag außer Kraft setzen, zeigt:
1. Trump ist keine Ungeheuerlichkeit zu schrill, um von sich reden zu machen, Aufruhr hervorzurufen und Tabus der Politik in Frage zu stellen; das zeigt
2. Trump ist vielleicht ein „dealmaker“, der in der Wirtschaft einigermaßen (d.h. mit Tricksereien) klarkommt, aber er ist kein Politiker, und er ist ganz gewiss kein Außenpolitiker. Schon in seiner Amtszeit als Präsident hat er das bewiesen. Einer seiner schlimmsten Fehler war seine vermeintliche Kumpanei mit Wladimir Putin, der dreimal gerissener als Trump ist und ihn in die Tasche steckt.

Apropos Putin: Immer deutlicher schält sich das Bild heraus, dass Putin im ganzen Westen — und nicht nur dort — seine Fäden zieht, die er, als alter Geheimdienst-Mann gewieft, schon lange gesponnen hat, sei es im Internet und da besonders in den social media, sei es in anderen Medien. Seine Trolls stützen weltweit rechtsradikale Strömungen und Organisationen, da fließt auch Geld, damit seine Propaganda-Erzählungen verbreitet werden. Sein Ziel ist die Destabilisierung demokratisch regierter Staaten sowie von Regierungen, die seine Politik kritisieren.
Man kann sich nur noch wundern, wieviel davon in den Köpfen z.B. von Deutschen hängenbleibt, wie unbedarft sie sich in Kanälen im Internet „informieren“, die ihnen vorgaukeln, die wahre Wahrheit zu verkünden, welche angeblich in anderen Medien unterdrückt wird.
Wer kein solides Grundwissen in Politik und Geschichte besitzt, lässt sich leicht von Behauptungen einfangen und irreführen, die auf dubiosen Kanälen und in den social media gestreut werden. In seriösen Medien werden Behauptungen normalerweise überprüft, da wird nichts ungeprüft sofort online gestellt.
Aber die dubiosen Kanäle stellen diese Verhältnisse auf den Kopf, streuen Zweifel an den geprüften und sicheren Fakten in den Nachrichten und fabulieren von Verschwörungen… So erschleichen sie das Vertrauen verwirrter und wenig informierter Leute, die im Internet unterwegs sind.
Trump hat 2016 in seinem Wahlkampf kräftige Unterstützung von Putins Trolls bekommen, und 2024 wird Putin sicher alles tun, um den Nato-Schreck Trump wieder ins Weiße Haus zu puschen.
Was glaubt Ihr, was Putins Trolls und seine Influencer alles versuchen, um die Ukraine-Hilfe im Kongress zu Fall zu bringen? Er hat die Partei der Republikaner im Zusammenwirken mit Trump so auf seine Linie gebracht, dass diese Partei sich nur noch als Befehlsempfänger für Trump zeigt.
Jetzt fragen Manche (durchaus zu Recht, natürlich): Wo sind die Beweise? Ich meine: Es ist mit Händen zu greifen, was hinter der Fassade vor sich geht. Und wenn mehr Leute nach Beweisen fragen würden, wäre Trump wohl nicht in der Lage gewesen, seine Behauptung von der „gestohlenen Wahl“ bis heute zu verbreiten und dafür Unterstützung in seiner Partei zu finden.
Trump wollte nach der knapp verlorenen Wahl nicht einsehen, dass auch er, der große Zampano, einmal eine Wahl verlieren könnte. Sein narzistisches Ego kann mit einer Niederlage nicht umgehen. Daher inspirierte er seine radikalen Anhänger dazu, am 06.01.2021 das Capitol zu stürmen. Das allein ist ein so ungeheuerlicher und antidemokratischer Vorgang, dass Trump dafür längst hätte im Gefängnis sitzen können, ja müssen.

Wie gesagt, Trump ist kein Außenpolitiker. Sein ganzes Reden und Tun zielt darauf, im Inneren der USA zu punkten und seinen WählerInnen nach dem Mund zu reden. Sowas nennt man Populismus: dem Volk nach dem Munde reden, egal, was man wirklich vorhat. So kann er nach Belieben sogar die Nato in Frage stellen, weil seine Gefolgschaft gar nicht versteht, dass die USA mit ihren Bündnissen auch eigene Interessen in der Welt verteidigen.

Leider ist in den USA die Außenpolitik kein Themenbereich, mit dem jemand Wahlen gewinnen könnte. Das verschafft Trump eine gewisse Narrenfreiheit, denn seine Gefolgschaft interessiert sich nicht für ferne Länder; sie will z.B. die Einwanderung nicht-weißer Menschen in die USA blockieren. Trumps Vorhaben einer Mauer an der mexikanischen Grenze kommt besonders bei weißen Rassisten gut an.

Nochmal zu Putin: Für ihn geht es um viel! Wenn die Unterstützung der USA für die Ukraine eingestellt würde, wäre das schon das schnelle Ende des militärischen Widerstands der Ukraine.

Für den Westen geht es aber auch um viel: Wenn Putin mit seinem Eroberungskrieg durchkäme, wäre das ein schlimmes Signal an alle Machthungrigen in der Welt, nämlich die Botschaft: Gewalt und Krieg lohnen sich, im Zweifel ist der Westen uneinig und weicht zurück, statt die Werte von Menschenrechten und Demokratie zu verteidigen.

Daher kann uns Deutschen nicht egal sein, wie der Krieg Putins gegen die Ukraine endet. Hier geht es auch um die Glaubwürdigkeit des Westens, der EU. Und nach dem Afghanistan-Debakel (August 2021) wäre es gut, wenn hier der Westen standhaft bliebe und die Ukraine konsequent mitverteidigte. Die Hauptlast des Krieges trägt ohnehin die Ukraine — aber, nicht zu vergessen: auch die vielen russischen Opfer. Und die Russen werden von Putin kusch gehalten, Protest darf es nicht geben: Russland ist inzwischen eine lupenreine Diktatur.

Aber auch Trump zeigt offen seine Gedankenspiele um Machtergreifung und (zumindest kurzfristige) Diktatur. Und sein Respekt für die Wahrheit ist längst hinter dem Horizont verschwunden. Seriöse Medien hat er vor Jahren schon beschimpft: „You are fake news!“ (Das entspricht der deutschen Beschimpfung „Lügenpresse“.) Und er schreckt nicht einmal davor zurück, Artikel aus seriösen Medien zu manipulieren und sie zu Trump-Lob umzufunktionieren: Donald Trump verbreitet manipulierte Newsweek-Artikel als »Originalversionen« – DER SPIEGEL

Worüber soll man eigentlich mit solchen Figuren reden, wenn Fakten mal Fakten und dann wieder Fake sind, wie es halt gerade passt? Das gilt leider auch für diejenigen unserer Landsleute, die sich aus solch dubiosen Quellen „informieren“ und glauben, sie seien informiert.

Im Grunde kann man mit einem Putin nicht über Fakten diskutieren, sondern — wie er es tut — Fakten schaffen. Das bedeutet: Putin muss militärisch zurückgedrängt werden. Man muss ihn in eine Lage bringen, in der er die Reißleine zieht und Verhandlungen anbietet, um einer Blamage vor seinem Volk vorzubeugen. Und das geht vor allem mit Lieferung von Kriegsmaterial an die Ukraine — nicht irgendwann, sondern subito! Es geht nicht, dass manche europäischen Politiker sich zurücklehnen und meinen, die tapferen Ukrainer würden sich schon zu wehren wissen. Das ist fahrlässig, dumm, kurzsichtig, und es ist unterlassene Hilfeleistung. —

Update 26.06.2024:

Was Trump kann, können wir schon lange, dachte man vor Kurzem wieder einmal in der CSU-Führung. Für die größten Klopper schickte man wie so oft den Scharfmacher Dobrindt an die Medienfront, wo er die Forderung in die Welt setzte: Die Flüchtlinge aus der Ukraine, die hier Bürgergeld beziehen, aber nicht arbeiten, sollten entweder zur Arbeit aufgefordert oder zurück in ihr Heimatland geschickt werden. In der West-Ukraine sei es ja sicher, da tobe kein Krieg.

Populistisch war daran die verfälschende Vereinfachung der Realität, um weiniger informierte Leute mit scheinbarer Logik zu täuschen. Dobrindt verschwieg 1. die Wahrheit, dass viele der ukrainischen Flüchtlinge Mütter mit Kindern sind (die mangels Kita-Plätzen ihre Kinder selbst betreuen müssen und nicht arbeiten können, obwohl sie gerne würden). Er verschwieg 2., dass die deutschen Bürokratie-Hürden es qualifiziertem Fachpersonal erschweren, hierzulande einen Job anzunehmen, für den sie (im Ausland) ausgebildet sind und wo sie hier auch gebraucht werden. Und 3. tat er so, als würde er nicht wissen, dass Putins Drohnen und Raketen überall in der Ukraine einschlagen und dabei den Westen des Landes keineswegs verschonen.

Dobrindt wollte auch gar nicht sachlich argumentieren, sondern nur auf billige Weise Sozialneid schüren und „deutsche Normalbürger“ gegen die Flüchtlinge aufbringen. Was ist der Zweck dieser haarsträubenden Spalterei? Die CSU (und auch ihre Schwesterpartei CDU) fürchten die Konkurrenz der AfD, von der sie rechts überholt werden. Da wollen sie (auf dem Rücken von Flüchtlingen und Ausländern) Stimmen zurückgewinnen. Das ist reinster Populismus: Gefühle aufputschen ohne sachliche Grundlage. Dobrindt hat ein perfektes Beispiel geliefert.

Zu Themen des Tages,16.01.2023

Unüblich in diesem Blog, äußere ich mich hier mal zu tagespolitischen Dingen:
1. Lützerath: Nach gefühlt 2 Wochen ständiger „Kriegsberichterstattung“ aus dem ehemaligen Dorf Lützerath im Braunkohlerevier ist erstmal Ruhe eingekehrt. Jetzt werden Details geklärt zum Polizeieinsatz und zu Gewaltszenen. Die Klima-Aktivisten hatten ihre maximale Aufmerksamkeit in den Medien. So, und was weiter? Wird nun eine Diskussion eröffnet über Gewaltlosigkeit und Legalität? Wollen die Aktivisten noch eins drauflegen? Ehrlich: Mir wurde bei einigen Äußerungen von Aktivisten klar, warum ich nicht Aktivist geworden bin.
2. Die Grünen werden von mehreren Seiten angegangen, teils angefeindet. Was haben sie getan? Wer in politischer Verantwortung steht, von dem erwarte ich jedenfalls mehr als nur Klientelpolitik. PolitikerInnen im Amt müssen Verantwortung für das Land und seine Bevölkerung wahrnehmen. Das haben in meinen Augen Vertreter der Grünen im Bund (Ampel-Regierung) und auch in NRW getan — was man nicht von allen Anderen so sagen kann. Ich sehe bei verschiedenen Gelegenheiten eher Leute damit beschäftigt, sich für Partei-Interessen einzusetzen, ihre Wähler populistisch zu mobilisieren und auf Umfragen zu schielen. Darum: Wenn es je Gründe gab, die Grünen zu unterstützen, dann jetzt, siehe oben.
3. Wann endlich bekommt die Ukraine in ausreichendem Umfang die militärischen Geräte, die sie schon längst hätte haben müssen, um die russische Armee aus dem Land zu werfen? Wie lange wollen einige Leute warten — vielleicht, bis wir die halbe Bevölkerung der Ukraine als Kriegsflüchtlinge aufgenommen haben? Bis Putin alle Städte plattgemacht hat? Bis Putin zwei Drittel des Landes vermint oder in Trümmer gelegt hat? Was, bitte, stellt Ihr Euch vor, die Ihr den Eiertanz um „schwere Waffen“ veranstaltet? Was bringt es, weiterhin alles Militärische – pfui, bah – zu verteufeln und Diplomatie und Verhandlungen herbeizuwünschen bzw. zu fordern, die es ziemlich sicher erst nach schwerwiegenden militärischen Entscheidungen geben kann? Hallo da draußen, wir leben nicht mehr in der Welt der frühen 1980er Jahre („Frieden schaffen ohne Waffen“). Ja, ich hätte mir auch gewünscht, Putin hätte weniger Lust auf Kriegführung und menschenverachtende Brutalität, aber da will ein skrupelloser Machtmensch ein Großrussland erzwingen, egal auf wessen Kosten. Wie wollt Ihr den denn stoppen? Oder wollt Ihr ihn belohnen, nur damit Ihr Euren Frieden habt? Andere Diktatoren schauen genau hin!

Soweit für heute.

W. R.

Zu Punkt 3 ein aktueller Nachtrag: Zwei prominente und politisch aktive Frauen haben einen Offenen Brief an Bundeskanzler Scholz geschickt und Verhandlungen statt Waffenlieferungen gefordert. Ts, ts, ts… Im Kölner Stadt-Anzeiger vom 14.02.23 schreibt dazu Heribert Münkler eine Kritik, die diesen Brief und seine Argumentation auf sachkundiger Basis in Grund und Boden stampft. Und kurz darauf meldet sich auch noch eine bekannte Theologin zu Wort und fordert auch ein Ende der Waffenlieferungen plus sofortige Verhandlungen.

Jo, mei! Darauf schrieb ich am 19.02. einen Leserbrief:

„Alle diese pazifistischen Wortmeldungen entspringen sicherlich ehrenwerten Gefühlen, doch geben sie keine rationalen Antworten auf realpolitische Fragen. So der ansonsten von mir sehr geschätzte Herr Precht nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges, oder später andere hochintelligente Menschen bis hin zu Wagenknecht und Schwarzer… Es wird zwar von der „hohen Kunst der Diplomatie“ gesprochen, auf die statt auf Militär gesetzt werden sollte, doch an diplomatischen Bemühungen hat es vor dem Krieg nicht gefehlt. Ich habe die Bilder noch vor Augen: Macron und Scholz mussten an einem gefühlt kilometerlangen Tisch Putin auf Rufweite gegenübersitzen. Das erinnert an die diplomatischen Aktivitäten 1938, als Politiker sich bemühten, Hitler vom Einfall in die Tschechoslowakei abzuhalten. Bekanntlich konnte damals der Friede nicht bewahrt werden, weil ein Hauptakteur nicht wollte. Und jetzt? Der Hauptakteur hat sich selbst in eine Lage manövriert, aus der er nur mit extremer Gewaltanwendung hinauskommen könnte — sofern die Ukraine an Unterstützung verliert. Übrigens: Wer von der Geschichte lernen möchte, mag sich das Schicksal der Tschechoslowakei 1938/39 anschauen. Wer bitte möchte der Ukraine Ähnliches zumuten — nur „um des lieben Friedens“ willen, der auch für die Ukraine Unterwerfung und Gewaltherrschaft bedeuten würde?“


Das geht in die Geschichte ein

DAS Jahr 2022 neigt sich dem Ende zu, und wir sind sicher, dass man sagen kann: Dieses Jahr wird in die Geschichte eingehen.

Wir machen hier jetzt keinen Jahresrückblick, aber zumindest das Datum 24. Februar fällt uns sofort ein. Das war der Tag, an dem Möchtegern-Eroberer-Zar Wladimir Putin einen unnötigen und ungerechtfertigten Krieg begann, indem er in das Nachbarland Ukraine einmarschierte und glaubte, mit Propagandalügen und vielen russischsprachigen Sympathisanten im angegriffenen Land einen schnellen Sieg einfahren zu können.

Doch es kam anders, denn die „ruhmreiche Rote Armee“ war offenbar längst Vergangenheit. Putin selbst lebt ja in seiner Gedankenwelt in einer Vergangenheit, die längst vorbei ist, ihm aber als Orientierungshorizont dient. Deshalb hat er im Jahr 2021 und schon davor in öffentlichen Verlautbarungen sehr stark auf Geschichte zurückgegriffen. In seiner Sicht war die Annexion der Krim (2014) eine „Wiedervereinigung“, und die beabsichtigte Eroberung der Ukraine die Zerschlagung eines Un-Staates, den es in seiner Sicht nicht geben durfte (erst recht nicht nach der politischen Wende hin zu mehr Demokratie). Die Ukraine, hieß es, sei immer Teil Russlands gewesen. Doch tatsächlich ist diese Interpretation historischer Verhältnisse umstritten, denn aus den Macht- und Abhängigkeitsverhältnissen im Mittelalter (Kiewer Rus) lassen sich nicht so einfach ethnische oder territoriale Zugehörigkeiten für die heutige Welt ableiten.

Wie auch immer, man kann ja in Allem immer etwas Anderes sehen und einen Vorgang der Geschichte anders interpretieren, als er nach allgemeingültigen Kriterien beurteilt wird. Welche „historische Wahrheit“ sich durchsetzt und allgemein anerkannt wird, ist manchmal eine Machtfrage.

Aber Macht allein kann auf Dauer nicht garantieren, dass krasse Verleugnung und Verfälschung von Geschichte nicht doch erkannt und publik gemacht wird.

Als nach Stalins Tod (1953) Nikita Chruschtschow eine Teil-Entstalinisierung begann und von Stalins Verbrechen sprach (1956), da brach für stalintreue Kommunisten nicht nur in der Sowjetunion eine Welt zusammen. Stalin wurde erstmals als der gesehen, der er war: Ein Massenmörder, der über Berge von Leichen hinwegging. Und doch wollten ihn Viele weiterhin als das verehrte „Väterchen Stalin“ sehen und weiter dem Personenkult huldigen, der Stalin so lange erstrahlen ließ.

Unter Putin wurde die Aufarbeitung der Vergangenheit unter Stalin nach Kräften zurückgedreht: Die Arbeit einer Organisation namens „Memorial“, die Verbrechen der Stalin-Ära untersucht, wurde zunehmend behindert, schließlich ganz verboten. Warum? Das könnt Ihr Euch selbst denken.*

Und was hat Putin in diesem Jahr erreicht? Zwei Dinge: 1. Er hat in einer Fehleinschätzung der Realität sein Militär vor den Augen der Welt in eine Blamage geführt, die den Nimbus einer „siegreichen Sowjetarmee“ vergessen lässt. 2. Er hat die Ukraine, eine angeblich nicht-existierende Nation, zu patriotischen Widerstand gedrängt und sie in kurzer Zeit zu einer wirklichen Nation zusammenwachsen lassen.

Zum konstituierenden Mythos der ukrainischen Nation wird in Zukunft gehören, dass sie dem übermächtigen Nachbarn die Stirn geboten hat, der sie vernichten wollte. Damit hat Putin moralisch verloren.** Und dabei haben wir noch nicht einmal von Putins moralfreier, unmenschlicher Kriegführung gesprochen.

Zu letztem Punkt muss ich darauf aufmerksam machen: Die Welt, oder die Weltgemeinschaft, darf nicht zulassen, dass Putins Verhalten der neue globale Standard bei Konflikten wird. Sie darf nicht hinnehmen, dass ein Machthaber willkürlich einen Krieg vom Zaun bricht und, mehr noch, diesen Krieg mit zahllosen Kriegsverbrechen führt. Wenn die Gründung der UN damals Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg zog, dann ist es dringend nötig, Lehren aus den Kriegen Putins zu ziehen und eine Weltordnung zu etablieren, die als Konsequenz nicht nur Putins Regime verurteilt, sondern auch den Angriffskrieg als solchen erneut ächtet – wie das schon in den Nürnberger Prozessen gegen das Nazi-Regime geschah.

Moralisch ist das keine Frage, politisch muss es durchsetzbar sein und auch durchgesetzt werden. Und wenn es nicht anders geht, dann muss Putins Russland eben eine Niederlage einstecken und zum Frieden genötigt werden. Wie sonst, bitte schön, soll denn diese Welt ein Stück friedlicher werden? Wir haben außerdem noch andere Probleme zu lösen, von denen leider Putins Zaren-Nostalgie die Welt ablenkt. Das kommt noch zusätzlich auf sein Konto: Statt zum Fortschritt im Sinne der Menschheit beizutragen, verursacht er Chaos und Rückschritt. Damit ist seine Rolle in der Geschichte auf jeden Fall schon negativ vorgemerkt.

S. R.

P.S. Die Verbrechen Stalins betrafen die Ukraine unmittelbar: Er ließ große Mengen Getreide beschlagnahmen und ins Ausland verkaufen, um Devisen für den geplanten Aufbau der Schwerindustrie einzunehmen. Als Folge verhungerten mehrere Millionen Menschen nicht nur in der Ukraine, wo dieses Verbrechen „Holodomor“ genannt wird. Ein Denkmal in Mariupol, das seit 2004 daran erinnerte, ließen die russischen Besatzer im Oktober abreißen — auch hier zeigt sich wieder der Kampf um die Deutung der Geschichte… Schon in der Sowjetunion wurde das Gedenken an den Holodomor unterdrückt.

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*mehr zu Memorial: Memorial (Menschenrechtsorganisation) – Wikipedia

** Hätte Putin sich nicht nur mit dem historischen Großrussland, sondern auch näher mit dem Zweiten Weltkrieg in Westeuropa befasst, dann wüsste er, wie Hitlers Bombenkrieg gegen England dort zum Mythos (The Blitz) des Widerstands- und Überlebenswillen erkoren wurde, die Nation stolz machte und so zum Durchhalten animierte.

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Nachtrag am 12.12.2022: Kaum war der obige Blog-Beitrag online gegangen, da sagte Putin seine übliche große Pressekonferenz zum Jahresende ab, die heute stattfinden sollte. Man könnte da einen Zusammenhang sehen, muss man aber nicht. So verhält es sich auch mit der einen oder anderen „historischen Wahrheit“, die vielleicht nur eine kühne Hypothese ohne Belege ist, aber trotzdem Gläubige findet — weil manche Leute eben einfach glauben wollen, was ihnen so schön ins Bild zu passen scheint. Ein Beispiel, das wir alle kennen: Donald Trumps Lüge von der „gestohlenen Wahl“, die noch immer bei vielen US-Bürgern verfängt.

Dieser Tage gab es eine große Polizei-Aktion gegen sogenannte Reichsbürger. Das sind Leute, die daran glauben wollen, dass dieser Staat keine Legitimation habe und das Deutsche Reich seit 1945 de jure weiter bestehe. Diese verrückt erscheinende Vorstellung könnte man als witzige Kabarett-Nummer verstehen, und so verstand ich sie, als ich in den Nuller-Jahren zum ersten Mal davon hörte. Inzwischen ist bekannt, dass viele Leute Gefallen an dieser Vorstellung gefunden haben und — das ist der Knackpunkt — ernsthaft glauben, mit dieser gedanklichen Konstruktion real Politik machen zu können.

Inzwischen haben diese Leute gemerkt, dass sie damit in der realen Politik keinen Blumentopf gewinnen können. Einige von ihnen wollen trotzdem nicht davon lassen und verlegen sich auf verschwörerische Umtriebe gegen diesen Staat, den sie mit oder ohne „Reichsbürgertum“ pauschal ablehnen. Konkret: Einige gehen so weit, dass sie reale Verschwörungen zum Sturz der Regierung und des demokratischen Systems planen, Waffen horten, „Feindeslisten“ schreiben, Einsatzpläne für den „Tag X“ ausarbeiten und sich in eine Machtübernahme nicht nur hineinträumen, sondern sie mit gewaltbereiten Leuten real in Szene setzen wollen.

Spätestens da muss auch ein demokratischer und im Prinzip toleranter Staat eingreifen. Wäre unser Staat ein autoritäres System, dann wären diese Möchtegern-Putschisten schon lange im Vorfeld verhaftet worden. In einem Staat wie z.B. dem gegenwärtigen Russland wären sie längst im Arbeitslager inhaftiert.

Wer unser demokratisches System erst gar nicht verstanden hat, der weiß auch wenig von den Grundwerten der Demokratie und läuft daher z.B. in einer Demo der Pegida oder der Verquerdenker mit. Da entblödeten sich fehlinformierte Menschen nicht, Schilder hochzuhalten, die von einer „Merkel-Diktatur“ kündeten. Auch das wäre allenfalls als Kabarett-Witz zu gebrauchen, wenn es diese Leute nicht tatsächlich ernst meinten.

Da werden Leute, die argumentieren wollen, von solchen Demonstranten niedergebrüllt — denn „man weiß“ ja längst, dass die alle bezahlte Marionetten des Systems sind und dass die Medien gleichgeschaltet und aus dem Kanzleramt gesteuert sind.

Das wiederum fand ich ausgesprochen lustig: Diese Leute, die sich von „Russia Today“ und anderen, von der Putin-Regierung finanzierten Kanälen bestens „informiert“ fühlten, beschrieben ein Bild, das eher auf Russland passte, aber von Putin als Bild hiesiger Verhältnisse in die Köpfe unserer Bevölkerung gesetzt werden sollte. Man will die Leute hier verunsichern, indem man frech die Tatsachen auf den Kopf stellt.

Dieses Propaganda-Schema findet man heute auch in den russischen Verlautbarungen über den Krieg gegen die Ukraine. Aber in einem Krieg wundert das nicht. Und, messerscharf geschlossen: Putin sah sich anscheinend schon vor 2022 im Krieg mit den westlichen Demokratien. Warum sonst finanzierte er soviel propagandistische Unterwanderung, warum finanzierte er schon lange viele rechtsradikale Parteien und Gruppierungen im Westen?

Wer verstehen will, wie Russland sich selbst sieht, und welche Erzählung über die Geschichte dieses Selbstbild begründet, der lese, was Orlando Figes in seinem Buch Eine russische Geschichte dazu schreibt. Seit Zar Iwan IV. dem Schrecklichen wird ein Mythos von der heiligen russischen Nation und dem „Sammeln russischer Erde“ gepflegt und Großrussland beschworen, Moskau als „Drittes Rom“ und Haupt der russisch-orthodoxen Kirche etabliert und in den Köpfen verankert.

Kein Wunder also, dass Putin den Schulterschluss mit der orthodoxen Kirche vollzogen hat (Wir erinnern uns z.B. an die Protestaktion von Pussy Riot in einer Moskauer Kirche 2012, für die die Teilnehmerinnen zu mehrjährigen Haftstrafen im Arbeitslager verurteilt wurden), kein Wunder auch, dass Patriarch Kyrill Putins Krieg gegen die Ukraine (auch aus kirchenpolitischen Gründen) unterstützt.

Und das Gros der Bevölkerung Russlands folgt der mythisch überhöhten Geschichtserzählung, die den Traum eines wiederhergestellten Großrusslands als historische Sendung preist — und dabei natürlich vom Selbstbestimmungsrecht der Völker oder gar von Demokratie nichts wissen will.

Wen überrascht da noch, dass andere Autokraten ebenfalls nostalgische Großreich-Träume wieder aufwärmen, z.B. Erdogan (Osmanisches Reich) oder Orban (ungarische Minderheiten in Nachbarstaaten „heim ins Reich“ holen). Wen überrascht, dass solche Autokraten auf Machtpolitik und Drohgebärden setzen und machomäßig Stärke zeigen — anstatt den Menschen diesseits und jenseits der Grenzen Ruhe, Frieden, Handel und Verbesserung ihres Lebensstandards zu ermöglichen durch friedlichen Austausch und Verständigung.

Die rückwärts orientierten Machthaber-Träume von Grenzverschiebungen und Annexionen schüren Konflikte, führen zu Unfrieden, betonen Trennendes zwischen den Menschen statt das Gemeinsame. Grenzen auf politischen Landkarten sind — so gesehen — etwas Gestriges, Antiquiertes, und sollten in unserer Zeit keine so große Rolle mehr spielen. Denn tatsächlich wird unsere Welt mit 8 Milliarden Menschen immer mehr zum „globalen Dorf“, in dem niemand mehr so tun kann, als ginge ihn/sie die anderen Menschen nichts an.

Das Gespenst der Freiheit

Halloween? Wer bitte braucht denn sowas? Allein die Nachrichten über Russlands Krieg gegen die Ukraine reichen völlig aus, uns das Gruseln zu lehren, da kommt kein Horror-Film mehr mit: barbarische Kriegführung wie im Mittelalter, enthemmte russische Soldateska plündert, foltert, mordet… Dazu kommen, wenn man mal hinhört, die abstrusen Propaganda-Behauptungen aus Russland, die völlige Verdrehung der Tatsachen, die entmenschlichende Darstellung des ukrainischen „Feindes“ in den Staatsmedien — das sind alles keine originellen Neuheiten, Viele historisch Informierte kennen das sattsam aus Kriegen der Vergangenheit.

Aber Putin lebt ja in den Vorstellungen der Vergangenheit, er will die Zeit zurückdrehen, will sich als neuer Zar in die Geschichtsbücher einschreiben. Außerdem kennt er keine menschlichen Rücksichten (wie einige Zaren und Stalin vor ihm), weder Rücksicht auf die eigenen Soldaten noch auf die Zivilbevölkerung im angegriffenen Land. Auf Petersburger Hinterhöfen hat er als Jugendlicher gelernt, dass nur Stärke, Brutalität und Täuschung das Überleben sichern. Dann hat er in seiner Karriere im KGB gelernt, dass zum Nutzen des eigenen Machtsystems alles erlaubt ist, und mit welchen Mitteln man Menschen gefügig machen kann. Im Übrigen zählen für ihn nur Männerfreundschaften und Seilschaften (bevorzugt mit alten Kumpeln vom KGB).

Wer so gestrickt ist wie Putin, ist nicht nur Macho, er verachtet auch Demokratie und ihre Kompromisse, die viele Menschen einbinden. Und er verabscheut die freie westliche Lebensweise, weil er die Menschen lenken, bevormunden, für seine Zwecke benutzen will.

Putin denkt beim Stichwort „Halloween“ an das Gespenst der Freiheit, das seine Herrschaft in Frage stellen könnte. Dieses Schreckgespenst fürchtet er genauso wie viele andere autokratische Machthaber, wo auch immer sie in ihren Machtzentralen sitzen und Krieg gegen die Freiheit führen, sei es in China, Myanmar, Iran, Saudi-Arabien, Ägypten, Syrien, um nur einige zu nennen (Ihr könnt die Liste erweitern).

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Es ist immer entlastend, mit dem Finger auf schlimme Dinge zu zeigen, die Andere verbrochen und zu verantworten haben. Wenn ich mal im eigenen Land bleibe, dann gruselt es mich auch vor manchen (vor allem braun gefärbten) Gespenstern. Aber gruseln kann man sich nicht nur mit Blick auf die Politik.

Beispiel: eine Meldung aus der Massentierhaltung. Da werden Masthühner gezüchtet, die soviel Fleisch ansetzen, dass sie fast wie eine Kugel anwachsen und sich kaum noch fortbewegen können. Der Begriff „Qualzucht“ ist da völlig zutreffend. Ansonsten bleiben Einem die Worte im Halse stecken. Es sind nicht nur die tierquälerischen Nerz-Farmen, die verboten gehören…

Wenn Alle immer sehen könnten, was Tieren aus Gewinnsucht angetan wird, würde der Fleischkonsum sicher drastisch sinken. Gar kein Fleisch mehr essen? So weit muss man nicht gehen. Den Tieren würde es schon bedeutend besser gehen, wenn statt täglich Billigfleisch nur noch 1-2mal pro Woche gutes bzw. Bio-Fleisch auf den Tisch käme. Fleisch von Tieren, die z.B. nicht mit Antibiotika vollgepumpt wurden. Aber das habt Ihr hoffentlich schon gehört. Dann zieht daraus die Konsequenz — auch für Eure eigene Gesundheit!

W. R.

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Nachtrag am 22.11.2022: Das Gespenst der Freiheit gibt es in anderer Form auch in unserem Land, hier allerdings als Übertreibung und egoistische Auslegung des Begriffs „Freiheit“. Viele Menschen scheinen in der Pubertät stehengeblieben zu sein und handeln nach dem Motto „Hauptsache: Dagegen!“ sowie „Ich zuerst!“ und „Mir schreibt keiner was vor!“ Was dabei völlig übersehen wird: Regeln und Vorschriften wurden hierzulande in der Regel nicht willkürlich erlassen, sie dienen auch nicht dem Ziel, Freiheiten einzuschränken und Leute zu ärgern.

Einfaches Beispiel: Bauvorschriften sehen Geländer an Treppen vor, die eine gewisse Zahl von wenigen Stufen überschreiten. Wozu das? Wer auf den Stufen fehltritt oder ausrutscht, zumal im Dunkeln, der findet im Zweifel Halt am Geländer und stürzt nicht (was vor allem bei älteren Menschen oft Knochenbrüche nach sich zieht). Diese Bauvorschrift dient also der Sicherheit und Gesundheit der Menschen. Wenn nun Einer daherkommt und sagt: Interessiert mich nicht, ich lasse mir keine Vorschriften machen, ich spare das Geländer ein — wie bewerten Sie ein solches Verhalten? Kann man das Ignorieren von Regeln und Verboten entschuldigen, weil Einer zu blöde ist, den Sinn zu erkennen?

Mir scheint, dass heutzutage eine Menge Menschen das Ignorieren und Brechen von Regeln total schick finden, dass sie im Stolz auf ihren Eigensinn sogar ihr Leben im Straßenverkehr riskieren und alle Anderen für Duckmäuser halten, die noch Regeln beachten. Mehr noch, manche jubeln sich selbst zu Widerstandskämpfern hoch, die sich „vom Staat“ nichts diktieren lassen und daher gegen alles opponieren, was irgendwie vom Staat kommt. Manche sind — mit Verlaub — so bekloppt, dass sie jede Uniform als Feindbild sehen und sich selbst ermächtigen, Polizisten und sogar Rettungssanitäter oder Feuerwehrleute anzugreifen.

Tut mir leid, aber solches Verhalten verstehe ich als „neben der Kappe“, dafür gibt es keine vernünftigen Begründungen. Und was die Totalopposition gegen „den Staat“ betrifft, dazu habe ich schon ausführlich Klartext geschrieben, siehe Blog-Beitrag „Machtpolitik“ vom 11.02.2022, Fußnote „Der Staat an sich“.

Illusionen

HABT Ihr etwa geglaubt, die wegen ihres tapferen Widerstandes vielgelobten Ukrainer würden die Russen schon in Schach halten, ohne dass Ihr massive militärische Hilfe leistet? Ohne dass Ihr die hierzulande vieldiskutierten „schweren Waffen“ liefert?

Wer bitte soll denn den über eine Million zu uns geflohenen Ukrainern den Weg zurück in die Heimat eröffnen? Habt Ihr vergessen, dass die zurückkehren wollen (in ein nicht von Putin beherrschtes Land)?

Wer bitte soll die russische Seeblockade an der Küste der Ukraine brechen, um den Weizen dahin zu exportieren, wo Hungerkatastrophen drohen? Mit welchen Waffen sollen die ukrainischen Soldaten das schaffen?

Macht Ihr Euch immer noch Illusionen darüber, dass Ihr mit Putin über all das verhandeln könntet? Oder hofft Ihr etwa, dass in der russischen Bevölkerung ein breiter Widerstand gegen Putins Regime losbrechen werde? Putin hat sie mit Propaganda und Geheimpolizei fest genug im Griff. Wer Putin und seinen Krieg kritisch sieht, verlässt, wenn möglich, das Land, um an sicherem Ort auf die Zeit nach Putin zu warten.

Statt Euch närrischen Hoffnungen hinzugeben, schickt endlich den Ukrainern die verdammten Panzerhaubitzen und Schützenpanzer und ziert Euch nicht länger (zum Gespött von Putin). Und wer hier vor Eskalation durch Waffenlieferungen warnt, hat doch eher den Schuss nicht gehört: Eskalation droht, ja, aber ganz anders, nämlich indem ein Putin, der weitere Teile der Ukraine schluckt, das als großen Sieg verkauft und die nächsten Eroberungen ins Auge fasst. Putins Denken richtet sich auf ein erneuertes Großrussisches Reich, das hat er selbst bekannt gemacht.

Verhandeln mit Putin — worüber? Wenn Ihr von Verhandlungen auf Augenhöhe oder mit Druckmitteln gegen Putin träumt, dann besetzt doch Kaliningrad mit der russischen Exklave und fordert, dass das an Deutschland, Polen oder sonst wen herausgegeben wird. So oder ähnlich würde es Putin an Eurer Stelle machen. Oder weigert Ihr Euch weiterhin zu sehen, mit wem Ihr es zu tun habt? Illusionen kosten weiterhin täglich Menschenleben.

Ja, liebe Leute, natürlich sollte „die hohe Kunst der Diplomatie“ zum Zuge kommen statt Waffengewalt. Aber sollen sich Scholz, Macron und andere westliche Politiker wieder — wie vor dem 24.2. — von Putin an einen (gefühlt) kilometerlangen Tisch setzen lassen, um ihm die Bühne für eine weitere Machtdemonstration zu bieten?

Wer bitte hätte sich denn nach den Erfahrungen von 1938/39 mit Hitler noch an einen Tisch setzen wollen? Niemand, nachdem er Zusagen am Konferenztisch (Münchner Abkommen) wie in öffentlichen Proklamationen (keine weiteren Gebietsforderungen) nicht eingehalten hatte. Im Prinzip hat Putin dieselbe Sicht wie damals Hitler auf die westlichen Demokatien: schwach, verweichlicht, uneins.

Was folgt daraus? Mit einem Autokraten oder Diktator verhandelt man aus einer Position der Stärke heraus, nicht aus einer unterlegenen, um Frieden bettelnden. Daran müssen wir uns in dieser Lage leider erinnern. Schöner wäre, die Lage wäre eine andere. Ist sie aber nicht.

W. R.

Nachtrag am 04.06.2022: Es gibt immer noch Stimmen, die indirekt oder explizit Verständnis für Putin fordern. Und Schlagzeilen in verschiedenen Medien von heute berichten, dass Frankreichs Präsident Macron davor warnt, Putin zu demütigen. Hä? Was soll das denn heißen? Sollen wir leise treten und Putin bloß nicht verärgern, sollen wir die Waffenlieferungen an die Ukraine einstellen, die Sanktionen gegen Russland fallen lassen? Was läuft da hinter den Kulissen?

Leute, denkt mal ein Stück weiter: Was soll nach dem Ende der Kämpfe passieren? Ihr, die Ihr in unzerstörten Wohnungen auf dem Sofa sitzt und über die Ukraine redet, solltet zuerst die betroffenen Menschen fragen, die den Krieg in der Ukraine ertragen müssen, und die Millionen, die vor dem Krieg geflohen sind und in Polen, Tschechien, Deutschland und anderswo auf Koffern sitzen und in die Heimat zurückkehren wollen, aber in eine Heimat, wo sich das Leben und ein Wiederaufbau lohnt.

Wir hier in Deutschland sind auf jeden Fall mit viel Geld dabei. Oder glaubt Ihr an den Weihnachtsmann, einen Putin mit Rauschebart, der zu den Kindern in die Ukraine reist und großzügig Wiederaufbauhilfe leistet für all das, was seine Truppen zerstört haben? Vom reinen moralischen Prinzip her gesehen, wäre Putin dazu verpflichtet, besonders nach all den Bomben und Raketen auf Wohngebiete, Krankenhäuser, etc. Aber moralisch hätte der Krieg auch gar nicht stattfinden dürfen — daran muss man alle erinnern, das ist nicht nur Pazifisten klar, sondern auch Kennern des Völkerrechts sowie allen einigermaßen politisch Gebildeten.

Und denkt auch an die Langzeitfolgen: Das Verhältnis zwischen Ukrainern und Russen ist durch diesen Krieg nachhaltig schwer belastet, wahrscheinlich über Generationen hinweg. Wer nur fordert, die russische Armee solle hinter den Stand vom 24.02.2022 zurückgehen, und alles wäre gut, der verkennt in naiver Weise, dass damit noch keine Wunden geheilt wären, weder körperliche noch seelische. Und die weltpolitische Lage wäre auch dann nicht dieselbe wie vor dem Überfall Russlands auf die Ukraine.

Wer meint, man könne die Ukraine ihrem Schicksal überlassen, um Putin nicht zu verärgern, oder um sich wieder anderen Themen zu widmen und diesen Krieg möglichst zu vergessen, der ist fahrlässig naiv: Der Untergang der Ukraine als Staat hätte weitreichende politische Folgen, z.B. wären ähnliche Kriege anderer Machthaber damit dann auch toleriert und hoffähig, der Krieg als Mittel der Politik würde fröhliche Urständ‘ feiern, und die Welt würde ganz offiziell mit Putin ins 18. Jahrhundert zurück marschieren. Am Ende gäbe es keine internationalen Vereinbarungen mehr, die irgendjemand noch einhalten wollte.*

Darum, muss ich leider sagen, ist rigoroser Pazifismus keine Option. Ebenso ist aber auch Leisetreterei gegenüber Autokraten keine gute Idee, egal, ob sie Orban, Erdogan oder sonstwie heißen (Ihr könnt die Liste sicher selbst um ein paar Namen verlängern). Und im Zweifel muss man sich wirklich entscheiden: gute Geschäfte und Wirtschaftsbeziehungen — oder eine einigermaßen moralisch vertretbare Politik. Wir sehen gegenwärtig Fälle, in denen diese Wahl ansteht.

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* Das kann niemand hierzulande wollen — erst recht nicht angesichts unserer viele Jahre lang vernachlässigten Bundeswehr! Deutschland würde (ohne Nato-Beistand) zum Spielball von Militärmächten — und müsste eine Schweizergarde zukaufen, um sich einigermaßen verteidigen zu können. —

Ergänzung am 07.06.2022 zur Frage: Wie geht es weiter? > Ukraine-Krieg: Noch einer von Wladimir Putins endlosen Kriegen, die in Vergessenheit geraten – DER SPIEGEL

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