Archiv des Autors: Wolfgang Reinert

… nicht mehr tolerierbar

A LLE reden von Kolonialismus und meinen damit meist die Zeit, in der europäische Mächte nach Übersee ausgriffen und sich Gebiete auf anderen Kontinenten aneigneten, wobei sie deren Bevölkerung unterwarfen und bei Widerstand brutal dezimierten. Am Pranger dieses allgemeinen Geschichtsverständnisses stehen die „üblichen Verdächtigen“ wie Spanien, Portugal, Niederlande, England, Frankreich, Belgien, Italien und Deutschland, also in etwa die Mehrheit der west- und mitteleuropäischen Länder. Weniger oft werden in diesen Blick die USA einbezogen, die nicht nur einen großen Teil Nordamerikas unterwarfen, sondern auch in den Pazifik ausgriffen und sich in Lateinamerika in die Politik der unabhängig gewordenen Staaten einmischten, die US-Politiker als „unseren Hinterhof“ bezeichneten.
Bei alldem hatte bei uns fast niemand die Expansion Russlands nach Asien im Blick, die Unterwerfung der Völker Sibiriens und des heutigen Südrusslands.* Wie schon bei den Alten Römern wurde und wird in Russland die Erzählung verbreitet, man habe damit Kultur und Zivilisation in weniger entwickelte Gebiete gebracht.
Dieselbe Erzählung übernahmen auch die Briten, als sie von „the white man’s burden“ sprachen: Weiße bringen den Völkern anderer Hautfarbe die hochentwickelte Zivilisation der Europäer und heben diese so auf eine höhere Kulturstufe.
Wir alle wissen aber längst, dass es bei den „Entdeckungen“ und der darauf folgenden Aneignung von Kolonien nur um wirtschaftliche und machtpolitische Interessen ging. Widerstand von aufständischen „Eingeborenen“ dieser Länder wurde mit brutaler Gewalt gebrochen, auch das hatte schon Vorbilder im Römischen Reich.
Was wir derzeit an Putins Russland sehen, ist die Fortsetzung dieser imperialen Denkweise. Man konstruiert sich einen Anspruch auf Territorien benachbarter Länder: Man handelt zum Schutz angeblich unterdrückter russischer Minderheiten, und/oder man stellt historisch begründet frühere Grenzen wieder her — ungeachtet der längst veränderten Verhältnisse, und ungeachtet des Völkerrechts. Solche Gründe zog z.B. auch Hitler heran, um die Expansion des deutschen Reiches zu rechtfertigen und seiner Machtpolitik einen legitimen Anstrich zu geben.
Wir wissen auch: Solange Machtpolitik und territoriale Expansionwünsche die Köpfe von Regierenden beherrschen, kommt die Welt nicht zur Ruhe. Und solange es genügend einfältige Menschen gibt, die sich dafür und im Zweifel auch für Krieg motivieren und einspannen lassen, gibt es immer wieder bewaffnete Konflikte.
Ein Grundübel ist, dass immer wieder Menschen das Trennende betonen und dabei das Gemeinsame in Abrede stellen, sich also lieber abgrenzen als sich mit Anderen zusammenfinden. Da wird die Identität einer Gruppe, eines Volkes. einer Nation über das Trennende definiert, da wird ab- und ausgegrenzt, werden Unterschiede betont. Dabei wird bewusst vergessen: Unsere hauptsächliche Identität ist, dass wir MENSCHEN sind. Menschen sind soziale Wesen, die Gemeinschaft brauchen, die in Not menschliche Solidarität brauchen, die anderen Menschen zu helfen bereit sind. Diese Gemeinschaft betrifft die Menschheit insgesamt. Wer aber künstlich Grenzen zieht, Barrieren und Mauern errichtet, Menschen Hilfe verweigert, der zeigt sich selbst von einer unmenschlichen Seite. Wenn dann noch eine faschistische Grundhaltung hinzukommt, ist die nächste gewaltsame Auseinandersetzung nicht fern. Im Blog-Beitrag „Gibt es liebe Faschisten?“ vom 02.10.2020 können Sie Näheres dazu lesen.
Leider passiert so etwas oft schneller als gedacht. Ein Männlichkeits-Gewaltkult ist meist der Treiber, der zur Gewalt-Eskalation führt. Staaten, in denen ein nationalistischer Militarismus propagiert wird, befinden sich auch bald im Krieg mit Nachbarstaaten. China führt das derzeit vor mit mlitärischen Drohgebärden gegen Taiwan. China begründet sein Verhalten mit einem Wunsch nach „Wiedervereinigung“ mit einer „abtrünnigen Provinz“ (was historisch schräg ist, denn Taiwan war nie Teil des kommunistischen China), China missachtet auch den Willen der Bevölkerung Taiwans, die weiterhin lieber in einer Demokratie leben wollen, und China missachtet (wie Russland gegenüber der Ukraine) das Völkerrecht, das gewaltsame Verschiebung von Staatsgrenzen nicht zulässt.

Man muss Nationalismus heutzutage kritisch sehen, gerade nach den europäischen Erfahrungen des 19. und 20. Jahrhunderts, wo in vielen Fällen Nationalismus zu Kriegen geführt hat. Eine starre Vorstellung von Nationalstaat, in dessen Grenzen es nur ein Volk geben soll, führt automatisch zu Konflikten. Die Bevölkerung des Staates wird dann oft von Machthabern in ein Korsett eines erzwungen homogenen Staatsvolkes gepresst, Minderheiten passen nicht ins Bild und werden unterdrückt, benachteiligt, ignoriert, zur Assimilation an die Mehrheit genötigt. Doch ein Staatsgebiet ist normalerweise nie ein Gebiet, das nur von einem Volk mit einer gemeinsamen Sprache bewohnt wird. Insofern ist die Idee vom völkischen Nationalstaat weltfremd.

Außerdem: Künstlich auf der Landkarte gezogene Staatsgrenzen kann man nicht quasi abdichten, im Gegenteil: Ein Staatsgebiet ist an seinen Grenzen immer osmotisch, also offen für Austausch. Und Austausch von Waren und Ideen nützt meist den Menschen auf beiden Seiten der Grenze. (Darum ist die EU eine gute Sache. Und am Brexit sieht man, wie sich GB selbst ins Bein schießt. Trotzdem will uns die „patriotische“ AfD weismachen, wir sollten die EU verlassen…)

Man kann den Natonalismus begrifflich trennen vom Begriff Nation. Eine Nation ist in erster Linie eine große Menschengruppe, die sich einer Gruppe zugehörig sieht, sei es aufgrund einer gemeinsamen Sprache, Kultur, Geschichte, usw. Eine solche Nation ist historisch gewachsen und kann nicht plötzlich verordnet werden. Meist lässt sie sich an den Rändern aber auch nicht scharf abgrenzen, es gibt Überschneidungen zu Nachbar-Nationen, mit denen man einige Gemeinsamkeiten hat. Und genau darauf fußt z.B. die Idee eines Europa mit einer kulturellen und historischen, gemeinsamen Identität. Denn es ist leicht, das Trennende zu betonen, doch viel leichter ist es, Gemeinsamkeiten zu sehen und in Begegnungen festzustellen, wie wenig uns von den Nachbarn anderer Länder trennt.

Dagegen versuchen Nationalisten, das Trennende zu anderen Nationen als identitätsstiftend herauszustellen. Und sie konstruieren oft auch eine Erzählung oder einen Gründungsmythos, der sie von anderen Nationen als etwas Besonderes, Einzigartiges abheben soll.

Nationalisten in Europa wollen ein sogenanntes „Europa der Vaterländer“, d.h. alles beim Alten lassen, und ein politisches Zusammenwachsen Europas möglichst verhindern. Das war schon in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht mehr zeitgemäß, aber im 21. Jahrhundert sind solche Retro-Vorstellungen erst recht kontraproduktiv. Denn Europa kann in der Weltwirtschaft und Weltpolitik keine gestaltende Rolle spielen, wenn einzelne Staaten immer wieder aus gemeinsamer Politik ausscheren und ihr eigenes Süppchen kochen. Dabei verlieren diese Einzelstaaten ebenso wie Europa insgesamt.

Deshalb, wie gesagt, muss man Nationalismus heute kritisch sehen, in meiner Sicht sogar sehr kritisch. Denn neben den oben genannten Gründen muss man gegen Nationalismus auch anführen, dass Mächte wie China oder Russland ihn ganz gezielt einsetzen, um ein heterogenes Vielvölkerreich auf Einheit zu trimmen, Minderheiten zu drangsalieren und territoriale Ansprüche auf Nachbarstaaten zu stellen, wobei sie aufrüsten und ein militärisches Drohpotential aufbauen. All das dient nicht dem Frieden in der Welt, sondern dem egoistischen Machtstreben von Machthabern und ihren Regimen, die auch Gewalt und Krieg durchaus als legitime Mittel ihrer Politik sehen. Und all das, die ganze Aggressivität, dient angeblich dem Wohle dieser Nation — dafür wird unablässig Propaganda gemacht. Und wenn es doch Kritik im Lande gibt, werden Spannungen zu Nachbarstaaten erzeugt und im Inneren nationale Solidarität gegen den äußeren Feind gefordert — ein sehr altes Muster autoritärer Politik.

Wir sehen spätestens beim Blick auf die weltumspannenden Probleme wie die drohende Klimakatastrophe:

Diese Welt braucht nicht mehr Abgrenzung und Egoismus, sondern mehr Verständigung und Zusammenarbeit über alle Grenzen hinweg. Das gebietet nicht nur die Vernunft, das entspricht auch der Menschlichkeit und dem Wunsch der allermeisten ErdenbürgerInnen, friedlich zusammenzuleben.

Damit wir der Erfüllung dieses Wunsches näher kommen, muss in den Köpfen Vieler noch ein Wandel eintreten: Schluss mit dem Unfug von männlichen Machtfantasien, Schluss mit dem Aufhetzen von Menschen gegen Minderheiten, Schluss mit dem Unfug der unbegrenzten Ausbeutung von Menschen, Tieren und natürlichen Ressoucen, Schluss mit den falschen Rechtfertigungen von Ausbeutung und Unterdrückung durch religiöse oder rassistische Irrlehren.

Wenn in Afghanistan die Taliban-Machthaber Frauen unterdrücken und zu ungebildeten Sklavinnen degradieren wollen, wenn im Iran die Machthaber Religion als Hilfsmittel der Unterdrückung missbrauchen, wenn im Sudan zwei bewaffnete Machtgruppen aufeinander schlagen und dabei Land und Leute kaputt schießen, wenn in den USA der Schusswaffengebrauch die häufigste Todesursache von Kindern ist — in diesen und (leider) vielen weiteren Fällen müssen Menschen sich schämen, wenn sie das tolerieren und für „normal“ halten wollen.

Denn das ist der (angeblichen) Krone der Schöpfung nicht würdig, es ist unter Niveau des (selbsternannten) Homo Sapiens. Und das ist in unserer Zeit überhaupt nicht mehr tolerierbar.

W. R.

* Mehr dazu > Ausstellung in NGbK Berlin zu jahrzehntelangem Kolonialismus in Russland und seiner Verarbeitung in der Kunst


Tag des Buches

… und mutmaßlich Geburtstag von William Shakespeare.

Mehr zum Buch und zu Büchern finden Sie auf der Unterseite FUF-Bibliothek, zu Shakespeare auf This Wooden O.

Auch zu erwähnen:

In Leipzig läuft derzeit die Buchmesse > Leipziger Buchmesse 2023 | Leipziger Buchmesse

In Köln läuft eine Ausstellung mit dem und rund um das Kölner Exemplar des First Folio von 1623, der ersten gedruckten Sammlung von Shakespeares Werken.

Am Dienstag, 25.04.23, läuft im TV auf Arte die interessante Sendung: „Bücher, die Hitler nicht verbrannte.“ Es geht um Forschungen rund um Hitlers Privatbibliothek.*

Außerdem, in eigener Sache:

Heute vor genau 10 Jahren ging diese Website fu-frechen.de online.

S. R.

* Der Beitrag ist in der Mediathek abrufbar: Die Bücher, die Hitler nicht verbrannte – Die ganze Doku | ARTE

Übrigens zeigt dieser hoch informative Film auch, dass Lesen an sich nicht zwangsläufig klüger oder moralisch reifer oder toleranter macht. Es kommt darauf an, wie und mit welcher Grundeinstellung man die gelesenen Inhalte zur Kenntnis nimmt, sie einordnet und bewertet.

In diesem Zusammenhang hatte ich einmal ein denkwürdiges Erlebnis: Ich hatte vor längerer Zeit das gleiche Buch gelesen wie ein Bekannter, und als ich sein Exemplar aufschlug und seine Anstreichungen im Text sah, fiel mir auf, dass er ganz andere Passagen oder Sätze markiert hatte als ich in meinem Exemplar. Es handelte sich um ein Buch mit psychologischem Ansatz und gesellschaftspolitischen Aussagen, und ich dachte, da kann es doch kaum Zweifel darüber geben, was der Autor sagen will. Ich fragte mich: Wie kann das sein, dass zwei Leser unterschiedliche Aussagen aus dem Text für wichtig bzw. besonders aussagekräftig halten?

Der oben empfohlene Film macht jedenfalls unmissverständlich deutlich: Rassismus, insbesondere Antisemitismus, war kein Sonder- oder Randphänomen in Europa, vielmehr war Rassismus schon in der europäischen Aufklärung aufgekommen und verstärkte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts (weil man so Kolonialismus und Imperialismus mit einer scheinbar wissenschaftlich gestützten „Rassentheorie“ entschuldigen konnte). Er war Bestandteil der europäischen Geistesgeschichte und ist keineswegs durch den Zusammenbruch des NS-Regimes 1945 aus Europa verschwunden, ebenso wenig wie in den USA. Mehr im besagten Film! —

Atomkraft?

Es ist vollbracht! Nach dem Kreuzestod Jesu ist — angesichts des Gedöns in deutschen Medien — wohl das Abschalten der drei letzten Atomkraftwerke im Staate D. das bewegendste Ereignis der Geschichte, oder? Kaum zu glauben, was interessierte Akteure für ein Aufhebens machen, um Stimmung gegen den Atomausstieg zu schüren.
Dabei ist Allen, ja wirklich: Allen in diesem Lande seit geraumer Zeit klar, dass das Ende der Atomkraft in Deutschland seinen gesetzlich geregelten Gang nimmt. Und dass die kurzfristige Verlängerung der Laufzeit von drei AKWs für wenige Monate als Notmaßnahme beschlossen wurde, um einen vielleicht möglichen Strom-Engpass im Winter zu vermeiden.
Wenige Atomkraft-Befürworter machen einen großen Lärm darüber, dass es unvernünftig sei, die deutschen AKWs ganz abzuschalten, und schüren die Angst vor möglichen zukünftigen Blackouts. Hört man die unaufgeregten Experten, dann ist diese Angst nicht begründet.
Aber zum Thema „Angst“ fällt mir ein: Europas größtes AKW bei Saporischschija in der Ukraine ist von russischen Truppen besetzt, immer wieder kommt es dort zu krisenhaften Situationen. Man fürchtet, in diesem AKW könnte es durch Beschuss oder infolge der von Kriegseinwirkungen mangelhaften technischen Kontrolle zu einem GAU kommen. Dieser wäre eine Katastrophe, die die von Tschernobyl (1986) noch toppen würde.
Wer hier gar neue AKWs fordert, muss erklären, wie gerade jetzt sichergestellt werden könnte, dass es einem Putin nicht einfällt, ein paar Hyperschall-Raketen auf die deutsche Infrastruktur zu schießen und dabei gezielt AKWs zu Atombomben umzufunktionieren.
Über einen solchen (zum Glück noch theoretischen) Fall hört man hierzulande nichts. (Vielleicht, weil noch immer viele Leute Putins Charakter und Ziele verkennen.)
Davon abgesehen, bleibt es bei der sachlichen Feststellung: AKWs sind die mit Abstand teuerste Form der Energiegewinnung, und im Unglücksfall auch die gefährlichste.
Wer mit dem (Schein-) Argument kommt, weltweit würden doch immer mehr AKWs gebaut, und der „deutsche Sonderweg“ führe unnötig ins Abseits, der unterschlägt, dass einige Länder auch schon den Atomausstieg planen, andere verbissen an Bauvorhaben festhalten, die sich sehr in die Länge ziehen und viel teurer werden als vorab geplant (Wir reden hier von Milliarden-Beträgen).
Inzwischen ist vielen Leuten auch klar geworden: In diesen Zeiten ist es nicht verantwortbar, die eigene Energieversorgung zu einem bedeutenden Teil von auswärtigen Mächten abhängig zu machen, sprich: Brennstäbe für AKWs aus Ländern wie Russland zu beziehen, die womöglich einmal die Lieferung verweigern und politische Bedingungen stellen.
Wer weiß, ob nicht bald Erdogan oder Orban dafür gescholten werden, dass sie ihren Ländern diesen Bärendienst erwiesen haben…
Ganz durchsichtig und schon fast eine Kabarett-Nummer ist die Einlassung einiger deutscher Politiker, unsere AKWs seien doch aktiver Umwelt- und Klimaschutz, während die in der Energie-Krise wieder hochgefahrenen Braunkohle-Werke sehr klimaschädlich sind. Söder und andere mutieren plötzlich zu Umwelt-Aktivisten, die die Grünen überholen?? Das glaubt den Windrad-Verhinderern doch kein Mensch, der eine Krempe am Hut hat!
Fazit: An der Bewertung der Atomkraft hat sich seit Langem nichts geändert: teuer, riskant. Wer hier stur für eine andere Bewertung trommelt, hat entweder viel Geld in dieser Sache stecken oder wird von der Lobby dieser Leute mit Worten und evtl. Geld gedrängt. (Ich wünschte, sie hätten vor Jahren nur halb so viel dafür getrommelt, die Produktion von Solaranlagen im Lande zu halten!)
Ich möchte jedenfalls nicht, dass die Leute, die uns erst in die Gazprom-Abhängigkeit getrieben haben, uns nun aus Eigennutz in neue Abhängigkeiten manövrieren. Darum: Atomkraft? Nein, danke!
W.R.

Ein Update vom 10.07.2023: Wer bisher dachte, Desinformations-Kampagnen würden nur aus dem Ausland (Russland, China, Nordkorea) initiiert und gelenkt, der darf jetzt zur Kenntnis nehmen, dass auch hier in Deutschland einflussreiche Akteure solche Kampagnen lostreten: Die „Bild“-Zeitung gab den Ton vor, und nach ihr stießen eine Reihe von PolitikerInnen der Oppositionsparteien kräftig ins selbe Horn. Bis in die Fernseh-Talkshows tragen sie die Falschbehauptungen von „Bild“.

Worum geht es dabei? Um die Energiepolitik, und um deutsche Atomkraftwerke, denen einige PolitikerInnen immer noch nachweinen. Sie betätigen bei jeder Gelegenheit die Drehleier vom angeblich „dringend benötigten Atomstrom“ — wohl wider besseres Wissen, bzw. infolge einseitiger Information, die bei „Bild“ teils auf handfesten Lügen basiert.

Von „Bild“ ist die Nation ja so manche schräge oder einseitig CDU-lastige Berichterstattung gewöhnt. Aber was da gerade in Sachen Energiepolitik abging, das hat schon das Etikett „Fake-News“ verdient. mehr >Energieversorgung: »Bild«, Union und AfD, vereint in Prepperfantasien – Kolumne – DER SPIEGEL

Update von Februar 2024: Energiepolitik: Atomkraft ist ein totes Pferd – warum steigt Merz nicht ab? Kolumne – DER SPIEGEL

Fortschritt auf Deutsch

Was läuft schief in Deutschland? Mein Eindruck: eine ganze Menge!
Wo soll ich anfangen, wo aufhören mit der Aufzählung? Ich kann nur ein paar Dinge herausgreifen, ehe ich atemlos pausieren muss.

1. Energiepolitik: Inzwischen ist es schon ein Gemeinplatz, dass unser Land viele Jahre lang sehenden Auges in die Abhängigkeit von russischen Gas gesteuert wurde. Die Leute am Steuer sind in der Bundesregierung seit Ende 2021 abgelöst. Das heißt aber nicht, dass jetzt eine große Kurskorrektur stattgefunden hätte, vielmehr sind die Widerstände enorm. Das zeigte sich jüngst (gegen Ende März ’23) bei der Krisensitzung der Ampel-Regierung: Retro-Anliegen wurden von FDP und SPD begünstigt, obwohl sich diese Koalition zu Beginn „Fortschritts-Koalition“ nannte. Die Grünen bekamen nicht mehr als ein Trostpflaster dafür. Ist das überhaupt eine Regierung, die dem Klimaschutz Priorität einräumt? Oder was will sie mit diesem Gewurschtel erreichen, vielleicht ein Weiter So und dabei fortschrittlich reden?
Und was ist mit der Opposition, welche Perspektiven bietet die CDU? Mir schrillen noch die Ohren von einer Aussage des sächsichen Ministerpräsidenten Kretschmer (CDU) in einer Talkshow vor wenigen Tagen, als er forderte, man müsse die Gas-Pipeline Nord Stream 1 als Option bestehen lassen — für evtl. zukünftige Geschäfte mit Russland. Wann denn? Nach Putin? Wer kann sagen, dass dann die Lage eine wesentlich andere wird? Der russische Staatshaushalt wird jedenfalls bisher hauptsächlich von Einnahmen aus dem Export fossiler Energieträger gespeist.
2. Schulpolitik: Da ist, ähnlich wie in der Energiepolitik, seit vielen Jahren trotz mancher Absichtserklärungen wenig unternommen worden, um die offensichtlichen Mängel zu beheben oder wenigstens zu reduzieren. Da Bildung bei uns Ländersache ist, haben wir ein zusätzliches Problem durch einen Flickenteppich schulpolitischer Maßnahmen. Ich erinnere nur an das Kind, das nach einem Umzug in ein anderes Bundesland meist neue Schulbücher braucht und z.T. andere Vorausssetzungen für den Schulabschluss erfüllen muss. Dann die Misere mit vielen maroden Schulgebäuden! Zuständig sind dafür die Schulträger, das sind meist Städte und Gemeinden. Da werden ganz verschiedene Prioritäten gesetzt, meist je nach Finanzlage. Unter dem Strich schaut man auf die Gesamtsituation und fragt sich: Wieviel sind uns unsere Kinder wirklich wert? In Deutschland liegen die Ausgaben für Bildung — man glaubt es kaum — unter dem Durchschnitt der EU-Länder. Was läuft da grundsätzlich schief? In Fensterreden wird dieses Land immer als eins der Techniker und Ingenieure, des technologischen Erfindergeistes etc. gelobt. Doch der Nachwuchs wird nicht in der Breite gefördert. Das hatten wir schon mal in den 1960er Jahren, als man erkannte, dass das bestehende Schulsystem die Begabungsreserven in der Bevölkerung nicht ausschöpfte und nur den Nachwuchs der eh schon Gebildeten oder Bessergestellten förderte. Mit anderen Worten: Unser Bildungssystem hemmt den Nachwuchs, benachteiligt Kinder aus bildungsfernen Milieus und lässt Deutschland international langfristig zurückfallen.
3. Verkehrspolitik: Seit wievielen Jahrzehnten ist die Eisenbahn Stiefkind der Politik, wird dem Auto und dem Straßenbau gegenüber der Schiene Priorität gegeben! Der Automobilwirtschaft zuliebe wurden — und werden — immer neue Autobahnen gebaut, die angeblich das Volk will. Das Volk will aber neben Mobilität auch eine intakte Natur und Wälder, keine Flut- und Dürrekatastrophen, und eine erträgliche Lebenswelt für Kinder und Enkel. Also, liebe PolitikerInnen, denkt nicht nur in Wahlperioden, bedient nicht nur eure StammwählerInnen, übernehmt Verantwortung für das ganze Land und seine Zukunft — nicht immer nur in Fensterreden, sondern in konkreten Maßnahmen mit sichtbaren Ergebnissen.
So, diese drei Bereiche müssen hier genügen, sonst werde ich depressiv. Zum Eigenschutz sehe ich mir schon kaum noch eine Talkshow mit Politikern im Fernsehen an. Ich kriege schon fast das Kotzen, wenn Einer von der FDP wieder einen Wortbrei von sich gibt, in dem die Zutaten „Freiheit“, „keine Verbote“, „Technologie-Offenheit“, „technischer Fortschritt“, „Vernunft“ u.a. nicht fehlen dürfen. Das ist Wortgeklingel, das sich gut anhören soll, aber die wahren Absichten verschleiert. (Mehr dazu auch im voraufgegangenen Beitrag „Keine Angst!(?)“ )

Ich kann den Satz „Wir sind ein reiches Land“ nicht mehr hören, wenn ich in unseren Städten immer mehr Obdachlose sehe, und wenn ich sehe, wie unser Land mit der Bildung und den Bildungschancen für Kinder umgeht. Eigentlich, dachte ich, stellt den Kanzler derzeit eine Partei, die das Soziale als ihren Markenkern bezeichnet. Müsste da nicht mehr passieren? Von der SPD hört man in Sachen Umwelt- und Klimaschutz auch nicht mehr viel. Gibt die FDP als kleinster Koalitionspartner hier die Richtung vor? Bleibt alle Sorge um Klimaschutz und sozialen Fortschritt bei den Grünen, die dann von FDP und SPD ausgebremst werden? Diesen Eindruck könnte man gewinnen. Ich hoffe sehr, dass sich dies nicht bestätigen wird!

(4.) Und lasst mich nicht noch ein weiteres Fass aufmachen und von der deutschen Bürokratie anfangen! Schon vor Jahren forderten einige Politiker in Wahlkämpfen gern „Bürokratie-Abbau.“ Man hört aber wenig davon, eher von Bürokratie, die die Wirtschaft hemmt oder in sturer Vorschriftenhuberei dafür sorgt, dass im Zweifel (aus formalen Gründen) die Falschen aus Deutschland abgeschoben werden (nämlich gut integrierte Fachkräfte, die unser Land dringend braucht).

Diese Eindrücke lassen mich bedrückt resümieren: Dieses Land steht sich mit alten Gewohnheiten z.T. selbst auf den Füßen.

(5.) Zu den alten Gewohnheiten zähle ich derzeit auch die für Viele scheinbar selbstverständlichen Denkweisen über Friedenspolitik und Militär, die aus einer Zeit stammen, in der man in Westdeutschland gefahrlos „Frieden schaffen ohne Waffen!“ fordern konnte, denn man durfte sich unter dem atomaren Schutzschirm der USA ausgeprägten Pazifismus leisten; den konnte man zusätzlich begründen mit militaristischen, unheilvollen Phasen der jüngeren deutschen Geschichte. Und die allgemeine Wehrpflicht schien im 21. Jahrhundert auch entbehrlich.

Seit Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine erleben wir, wie schwer sich viele Menschen tun, ihr Weltbild wie auch konkret ihre Sicht auf das Militärische der veränderten Realität anzupassen. Das ist auch nicht so einfach, es erfordert eine differenzierte Betrachtung von Fragen der Gewalt, der militärischen Rüstung, der internationalen Politik. Und Kanzler Scholz (SPD) scheint da sehr viel Rücksicht auf Friedensbewegte in seiner Partei zu nehmen. Das wäre ja nicht schlecht, wenn wir nicht den 24.2.2022 erlebt hätten und die brutalstmögliche Kriegführung durch Russland. Aber nun…!

W. R.

Nachtrag am 30.04.2023 zur Energiepolitik: Über die zahlreichen Versuche interessierter Leute, uns, die Bevölkerung (nicht nur in Sachen Atomkraft) dumm zu schwätzen, lässt sich ausführlich dieser Artikel aus: Klima-Verzögerungstaktik: Was Springer, Schäffler, Spahn und Wagenknecht gemeinsam haben – DER SPIEGEL

Man kann nach diesen Überlegungen verstehen, dass manche Menschen hierzulande von Lobbykratie statt Demokratie sprechen, wenn sie auf das parlamentarische System schauen. (Das heißt nicht, dass es anderswo nicht noch schlimmer ist, z.B. in Großbritannien).



Keine Angst! (?)

WÄHREND die meisten Menschen auf dem Globus ihrer Arbeit nachgehen — oder Arbeit suchen — oder auf der Suche nach genießbarem Trinkwasser lange Wege gehen — oder ihren Feierabend mit einem Bier vor dem Fernseher genießen — oder Hunger leiden — oder vor Krieg und Bandenkämpfen auf der Flucht sind — oder an einer Küste auf eine Chance warten, mit einem überladenen Schrott-Boot ein sicheres Land mit besseren Lebensbedingungen zu erreichen — beschäftigen einige Andere sich damit, Künstliche Intelligenz zu erschaffen und diese auf die Welt loszulassen.

Muss man vor Künstlicher Intelligenz alias KI Angst haben? Sollte man sich auf Chancen der Menschheitsbeglückung durch KI freuen?

Dazu gibt es bereits kluge Einlassungen und lange Artikel, die uns das Pro und Kontra vortragen. Einer kann hier als Beispiel angeklickt werden: Künstliche Intelligenz: Die Rückkehr des Wunderglaubens – Kolumne – DER SPIEGEL

Meine persönliche und einstweilige Meinung: Das ist ein selbstlernendes System, es kann sich schnell in eine nicht gewünschte Richtung entwickeln. Also muss man Kontrollsicherungen einbauen — inklusive die Möglichkeit, das System abzuschalten oder zu zerstören.

Der Film „2001 — Odyssee im Weltraum“ (1968) führte uns im Kino schon vor Jahrzehnten vor Augen, was passieren kann, wenn allzu große Technikgläubigkeit Dinge schafft, die dem Menschen die Kontrolle entwinden. In jenem Film ist es der umfassend befähigte Bordcomputer des Raumschiffs, der unerwartet Befehle verweigert und die Kontrolle über das Raumschiff übernimmt. Da wurde das Problem schon vorweggenommen, das uns mit der KI ins Haus stehen könnte (oder wird?).

Heutzutage ist ja fast alles vorstellbar, z.B. auch (angesichts der Begehrlichkeit von autoritären Regierungen, die totale Kontrolle über alles zu haben) die Aneignung einer KI-„Maschine“ durch eine Macht, die die globale Kontrolle anstrebt.

Schon lange vor dem o.g. Film gab es die Ballade vom Zauberlehrling, der „die Geister, die ich rief“, nicht mehr beherrschen konnte… Diese Warnung existierte also schon, als der zunehmende wissenschaftlich-technische Fortschritt die industrielle Revolution in Gang setzte*, und lange, bevor wir die digitale Revolution unserer Lebenswelt erlebten.

Die Frage ist, ob es interessierten Gruppen (das sind die, die darin Geld investieren und mehr Geld erwirtschaften wollen) gelingt, die öffentliche Meinung so zu beeinflussen, dass die Menschen falschen Erzählungen glauben und gegen ihre eigenen Interessen den profitorientierten Gruppen freie Hand lassen.

Gegenwärtig sehen wir z.B. den Einfluss von Lobby-Verbänden am Werk, die die Energiewende behindern, die das Aus für Atomkraft in Deutschland rückgängig machen wollen, die (besonders zur Freude Putins) den Abschied von fossilen Energieträgern (Öl, Gas) verzögern und möglichst vereiteln wollen. In den Medien wird ein Informationskrieg geführt, bei dem Leute von „Vernunft“ sprechen, die alles möglichst beim Alten lassen wollen. Diese Art von Vernunft verharmlost den Klimawandel und seine immer stärker sichtbaren Folgen, versucht die Gemüter zu sedieren, verschweigt dabei die Konzeptlosigkeit für die Zukunft, wirft aber ständig mit Worthülsen wie „Technologie-Offenheit“ um sich und verschleiert die Verantwortungslosigkeit gegenüber unseren Nachkommen.

Diese Sorglosigkeit der Konzernlenker (um noch ein paar Milliarden mehr zu scheffeln) und Diktatoren (Putin ist die Umwelt in Russland und anderswo völlig egal) kann Einem schon Angst machen. Gerade ist der Iran dabei, nach chinesischem Vorbild die Überwachung der Bevölkerung auszubauen (mit zahlreichen Kameras mit Gesichtserkennung). Wenn bald auch noch KI hinzukommt, um die Menschen noch viel effektiver zu täuschen und zu unterdrücken… **

Wir kannten die Egomanen mit Allmachtsfantasien und Streben nach Weltherrschaft bisher eher aus James-Bond-Filmen. Nun stellt sich heraus, dass ein paar Großmannssüchtige das tatsächlich versuchen. Putin will ein großrussisches Imperium erobern, China die Weltmacht Nr. 1 werden, und daneben strampeln noch ein paar Diktatoren der zweiten Liga danach, ihre Macht mit allen Mitteln zu sichern und auszubauen. Allen ist gemeinsam: Menschen sind bloß Nummern und austauschbar, einzigartig ist (nach seiner Selbst-Einschätzung) nur der Diktator.

Fazit: Die Entwicklung neuer Techniken und Technologien ist weder gut noch schlecht, es kommt wesentlich darauf an, wer sie in die Hände bekommt und mit welchen Absichten verwendet. Mir persönlich reicht schon der Hinweis auf die „social media“ des Internet, um mir ein flaues Gefühl im Magen zu machen. Wo bleibt da die Informationsfreiheit, wenn Google und Andere ihre Algorithmen nicht offenlegen? Und was sollen wir noch für wahr halten, wenn uns erst die KI alles Unmögliche als Wahrheit vorgaukeln kann?

W. R.

* Goethe schrieb die Ballade 1797, in einer Zeit, als die Industrielle Revolution in England einsetzte. Wer sie nachlesen möchte, klicke hier: Johann Wolfgang von Goethe – Das Gedicht ‚Der Zauberlehrling‘

** Dazu ein Update vom 02.05.23, das zeigt: Meine Bedenken sind nicht nur meine > Die Gefahren von KI: Warum Geoffrey Hinton Google verlässt – Wirtschaft – SZ.de

An ihren Taten…

DIE zunehmende globale Klimaveränderung wächst sich in einigen Regionen bereits zur Katastrophe aus, Jede und Jeder weiß es — bis auf ein paar hartnäckige Leugner, die stur-besserwisserisch die Erkenntnisse der Wissenschaft ignorieren und sich lieber in Verschwörungsfantasien verlieren… und dazu ein paar geistige Tiefflieger, die nur glauben, was sie zu sehen glauben, nämlich dass die Erde eine Scheibe sei und Sol mit dem Sonnenwagen tagsüber über den Himmel fährt.
So einen Sonnenwagen, befeuert mit E-Fuels, malt uns unser derzeitiger Verkehrsminister Wissing (FDP) an den Himmel und will uns das als Alternative zur Abschaffung der Verbrenner-Motoren in Autos verkaufen. Sein Motto: Was schert mich Europa, wenn ich ein parteipolitisches Süppchen kochen kann!
Ich habe besonnene und gut informierte Leute reden hören, wie sie im Gespräch fragten: Ist dieser Verkehrsminister noch bei Verstand? In einer Wahlkampfrede in Hessen bezeichnet er alle Kritik an seinen Plänen als „Klima-Blabla.“ Geht’s noch verbohrter? Ist dieser Minister überhaupt politikfähig, oder muss man gar noch schlimmere Defizite befürchten?
Und seine Partei, die FDP? Selbst den meisten Porsche- und SUV-Fahrern, so sie bei Verstand sind, muss dieser Mann langsam unheimlich werden. Ich verzichte auf ausführliche Begründung, es genügen die Stichworte Tempolimit, Autobahnausbau, DB. Wissings Markenzeichen ist das Geisterfahren gegen Klimaschutz, gegen Empfehlungen der Fachleute, und gegen EU-Beschlüsse.
Die FDP soll sich bloß nicht erdreisten, sich als gute Europäer darzustellen. Ich erinnere mich an einen Europa-Wahlkampf zur Zeit der rot-grünen Schröder-Regierung, in dem die FDP Plakate klebte mit dem Slogan: „Denkzettel für Berlin!“ Ich war entgeistert darüber, wie unverfroren da eine Wahl für das Europaparlament missbraucht wurde, um innerdeutsche Stimmung gegen die Bundesregierung zu machen: Das wollen aufrechte Demokraten sein? dachte ich. Die sind doch bloß populistisch unterwegs und nutzen mangelnde Kenntnisse in der Wählerschaft für egoistische Zwecke, anstatt sie über den Sinn dieser Wahl aufzuklären.
Das ist Schnee von gestern? Für mich nicht. An ihren Taten sollt ihr sie erkennen, danach beurteile ich PolitikerInnen und Parteien. Wissing hat sich soeben in Brüssel als Saboteur einer europäischen Einigung gezeigt, die schon ausgehandelt war (was in Europa oft mühsam genug ist).
Wer wundert sich angesichts solcher Politik darüber, dass die „Letzte Generation“ nicht aufhört, sich auf belebten Straßen festzukleben? Es würde aber treffsicherer wirken, wenn sie sich z.B. an die Dienstwagen von Wissing und Lindner klebten. Denn die bisherigen Aktionen mögen zwar mediale Aufmerksamkeit sichern, aber Einiges erscheint mir nicht so zielführend, wie es im Furor der Weltrettung beabsichtigt ist.
Leider hatten wir in letzter Zeit mehrere närrische Verkehrsminister, die das Ressort für egoistische Parteipolitik genutzt haben statt für das Gemeinwohl. Ist das der Preis für ein Demokratie-System, das auf Parteien setzt und im Zweifel auf Koalitionsregierungen, die durch Kompromisse zustande kommen? So scheint es, und in anderen Staaten mit einem demokratischen System läuft es nicht unbedingt besser.
Churchill sagte: „Demokratie ist die schlechteste Regierungsform…“ Und irgendwann fügte er hinzu: „Aber ich kenne keine bessere.“ Den Fans von autoritären Regierungen bzw. Diktaturen kann ich nur raten: Schaut Euch die Sache vom Ende her an. Ein Putin, der davon träumt, Russland zu alter historischer Größe zurückzuführen, führt Russland in den Niedergang. Ein Hitler, der größter Feldherr aller Zeiten sein wollte, ließ Deutschland verkleinert und in Trümmern zurück. Beide sorgen dafür, dass ihr Volk einen hohen Blutzoll zahlt — und für was?

Dabei haben wir, die Völker dieser Welt, doch ganz andere Probleme, die weder durch Krieg noch durch Wegsehen, sondern nur durch internationale Zusammenarbeit gelöst werden können. Aber solange die falschen Leute auf wichtigen Posten sitzen, muss man befürchten, dass wir viel zu langsam an Lösungen herangehen. Dem alles überschattenden Klimaproblem ist mit halbherzigen Maßnahmen nicht beizukommen. Wir sehen das doch fast täglich in den Nachrichten. Und das Problem wächst rasant, während manche Leute immer noch Volksverdummung spielen und wichtige Maßnahmen ausbremsen.

W. R.

In Sachen „Verbrenner“ und Energiepolitik lesen wir Deutliches in diesem Beitrag vom 19.02.2023: Konservative Energiepolitik: Mit Vollgas in die falsche Richtung – Kolumne – DER SPIEGEL

Was der Klimawandel für Europa bedeutet (das sich im Vergleich zu anderen Kontinenten besonders stark erwärmt), zeigt z.B. diese Meldung: Spanien hat Angst vor der Sonne – DER SPIEGEL

Einwurf am Tresen

Gestern in der Kneipe legte mal wieder einer der Stammgäste am Tresen los:
„Also, diese Putin-Versteher und Scheinpazifisten, die gegen die Waffenlieferungen an die Ukraine wettern — das sind für mich schlicht und einfach Landesverräter. Doch, ja, warum? Sie fallen der Regierung, der EU, der Nato in den Rücken, wo doch gerade jetzt Geschlossenheit gegen den Aggressor angesagt ist.
Außerdem begreife ich diese Leute nicht — oder kann ich mir einfach nur nicht vorstellen, dass man für Unmenschlichkeit, Brutalität und rücksichtslose Kriegführung sein kann? Wer diese Dinge, wer diesen russischen Angriffskrieg entschuldigt, der hat doch wirklich den Schuss nicht gehört! Was würden denn dieselben Leute sagen, wenn Putin sich morgen entschließt, Raketen auf deutsche Kraftwerke und andere wichtige Versorgungseinrichtungen zu schießen? Wenn von Russland gesteuerte Raketen und Drohnen ihre Wohnhäuser zerstörten? Fänden diese Leute dafür dann auch noch verständnisvolle Ausreden? Kann ich mir nicht vorstellen.
Aber so sind sie, die Leute, die bedenkenlos das Leben anderer Menschen zu opfern bereit sind, solange es sie selbst nicht trifft. Darunter sind Leute mit faschistischer Weltanschauung, die das aber nicht hören wollen und sich gegen die „Nazi-Keule“ wehren. Das sind Leute, die nicht einmal hören wollen, was man unter „Faschismus“ versteht — könnte ja sein, dass sich herausstellt, wie nahe sie dem selber stehen.
Jupp, machste mir noch ’n Kölsch?
Nä, wat is dat unappetitlich. Und dann zeigt mir da heute Einer auf dem Handy in den „social media“ so einen Post, da weiß ich nicht, ob ich weinen oder lachen soll. Da hat Einer eine ganze Reihe Zitate von Vertretern der Grünen-Partei zusammengestellt, die nur empörend sind und in denen sich diese Leute als Deutschenhasser und Ausländerfreunde zeigen. Im ersten Moment stutzt man und meint: Empörend! Und dann leitet man das spontan, wie der Absender wünscht, an weitere Leute weiter, damit die sich auch empören.
Nä, echt, erstmal noch ’nen Schluck. Ja, Jupp, noch eins.
Also, genau so funktionieren diese social media. Das Blödste und Empörendste wird vom Algorithmus ganz nach vorn gestellt, damit möglichst Viele das spontan anklicken und weiterleiten. Damit wird es im Netz weiter verbreitet, selbst wenn dann festgestellt wird, dass es Blödsinn ist, selbst wenn es nach einer Zeit gelöscht wird (oder auch nicht).
Ach ja, noch zu dem Post: Ich habe mir den mal genauer angeschaut. Aber hallo: Der ist ein Lehrbeispiel für den Unterschied zwischen seriösen Medien und Gesabbel in social media. Nämlich 1. sind hier Zitate — angeblich belegbare! — aufgeführt, aber weder Datum noch Quelle des Zitats werden genannt — womit schon mal nicht überprüfbar ist, ob es sich überhaupt um echte Zitate handelt. 2. Falls es wirklich unverändert wiedergegebene Zitate sind, fehlt der Zusammenhang, um sie einordnen zu können. 3. Da hat angeblich eine Grüne Verständnis gefordert für einen Asylbewerber, der eine junge Frau vergewaltigt und umgebracht hat.
Und jetzt überlegt mal kurz: Könnt Ihr Euch eine Frau vorstellen, die für sowas Verständnis aufbringt? Nicht? Da hat sich doch glasklar der Urheber dieses Fake selbst ein Bein gestellt und ist weit übers Ziel hinaus geschossen. Da überschlägt er sich in seinem Hass auf Grüne und wohl auch auf Frauen.
Also, liebe Leute, ein klein wenig Grips, ein wenig Nachdenken kann verhindern, dass Ihr auf solche Fakes hereinfallt und sie ohne Einschalten des Gehirns, nur mit dem Bauch, bestätigt und weiterleitet.
So, darauf trinken wir noch einen.
Übrigens, ich krieg das Grausen, wenn ich mir vorstelle, wieviele Menschen sowas auf’m Handy lesen und gedankenlos weiterleiten.
Aber mach was dran! Man müsste schon das Internet abschalten, um diesen Unfug einzudämmen. Das passiert ja in einigen Diktaturen, aber nicht wegen Fake News, sondern um unerwünschte Kritik zum Schweigen zu bringen.
Un‘ ich sach noch: Augen auf und Gehirn einschalten auch im Internet! Da meint es längst nich‘ jeder ehrlich — wie im richtigen Leben auch.
Jupp, ein Wasser, ich muss klar bleiben im Kopf. —
(aufgezeichnet von W. R.)

Nachbemerkung von W. R.:
Die Sache mit der (offensichtlich erfundenen) verständnisvollen Grünen-Frau verrät, aus welcher Ecke dieser Post stammt. Muss ich das noch erläutern? Ihr wisst sicher selbst, dass solche Fantasien am ehesten im Milieu von Rechtsradikalen, Verquerdenkern, Putin-Freunden etc. zu finden sind, eine Mischpoke, die sich gern auf prorussischen Demos zusammenfindet …

Nachtrag am 31.01.23: Der oben zerpflückte Post zeigt 1. dass sich der Urheber nicht in Frauen hineindenken kann oder will, die Mühe macht er sich gar nicht, und schon deshalb kommt Stuss dabei heraus; 2. dass der ganze Anti-Grünen-Post voll auf der AfD- und Maaßen-Linie liegt. Ihr habt doch gehört, was H. G. Maaßen vor wenigen Tagen von sich gegeben hat, oder?. Wenn Einer von einer „rot-grünen Rassenlehre“ faselt, dann schießt er sich selbst ins Abseits.* Das kann man nicht ernst nehmen, zugleich aber auch nicht tolerieren Zu Recht hat der Parteivorsitzende der CDU daraufhin Maaßen aufgefordert, die Partei zu verlassen. Und die sogenannte Werte-Union hat sich mit der Wahl dieses Vorsitzenden auch in AfD-Nähe positioniert.

* Wer überhaupt ernsthaft von Rassenlehre spricht, benutzt eindeutig Nazi-Vokabular. Das muss gerade ein Maaßen als ehemaliger Präsident des Verfassungsschutzes wissen. Daher war das kein Versehen, sondern bewusste Ansprache eines rechtsgerichteten Milieus.

Nicht zu vergessen: Man sollte immer darauf hinweisen, dass der Begriff „Rasse“ falsch ist, wenn es um Menschen geht. Das kann Euch jeder Biologe und jede Medizinerin erklären, sofern sie nicht von rechten Gift-Parolen infiziert sind. Es gibt auch im Hinblick auf die Genforschung keine „Rassen“-Unterschiede zwischen Menschen verschiedener Kontinente oder Hautfarbe etc. Aber wie beim Klimawandel versuchen immer ein paar Leute, die Ergebnisse der Wissenschaft zu ignorieren oder scheinbar zu „widerlegen“. Sowas wie „Rassenlehre“ ist nichts weiter als der vergebliche Versuch, Diskriminierung und Ausgrenzung, Kolonialismus und Sklaverei irgendwie sachlich zu begründen. Und einige Unbelehrbare klammern sich weiter verzweifelt an die liebgewonnene Vorstellung, sie gehörten einer „überlegenen weißen Rasse“ an. Diese Selbsterhöhung auf Kosten Anderer ist ein moralischer Defekt, wenn nicht bei Manchen sogar ein psychischer.


Zu Themen des Tages,16.01.2023

Unüblich in diesem Blog, äußere ich mich hier mal zu tagespolitischen Dingen:
1. Lützerath: Nach gefühlt 2 Wochen ständiger „Kriegsberichterstattung“ aus dem ehemaligen Dorf Lützerath im Braunkohlerevier ist erstmal Ruhe eingekehrt. Jetzt werden Details geklärt zum Polizeieinsatz und zu Gewaltszenen. Die Klima-Aktivisten hatten ihre maximale Aufmerksamkeit in den Medien. So, und was weiter? Wird nun eine Diskussion eröffnet über Gewaltlosigkeit und Legalität? Wollen die Aktivisten noch eins drauflegen? Ehrlich: Mir wurde bei einigen Äußerungen von Aktivisten klar, warum ich nicht Aktivist geworden bin.
2. Die Grünen werden von mehreren Seiten angegangen, teils angefeindet. Was haben sie getan? Wer in politischer Verantwortung steht, von dem erwarte ich jedenfalls mehr als nur Klientelpolitik. PolitikerInnen im Amt müssen Verantwortung für das Land und seine Bevölkerung wahrnehmen. Das haben in meinen Augen Vertreter der Grünen im Bund (Ampel-Regierung) und auch in NRW getan — was man nicht von allen Anderen so sagen kann. Ich sehe bei verschiedenen Gelegenheiten eher Leute damit beschäftigt, sich für Partei-Interessen einzusetzen, ihre Wähler populistisch zu mobilisieren und auf Umfragen zu schielen. Darum: Wenn es je Gründe gab, die Grünen zu unterstützen, dann jetzt, siehe oben.
3. Wann endlich bekommt die Ukraine in ausreichendem Umfang die militärischen Geräte, die sie schon längst hätte haben müssen, um die russische Armee aus dem Land zu werfen? Wie lange wollen einige Leute warten — vielleicht, bis wir die halbe Bevölkerung der Ukraine als Kriegsflüchtlinge aufgenommen haben? Bis Putin alle Städte plattgemacht hat? Bis Putin zwei Drittel des Landes vermint oder in Trümmer gelegt hat? Was, bitte, stellt Ihr Euch vor, die Ihr den Eiertanz um „schwere Waffen“ veranstaltet? Was bringt es, weiterhin alles Militärische – pfui, bah – zu verteufeln und Diplomatie und Verhandlungen herbeizuwünschen bzw. zu fordern, die es ziemlich sicher erst nach schwerwiegenden militärischen Entscheidungen geben kann? Hallo da draußen, wir leben nicht mehr in der Welt der frühen 1980er Jahre („Frieden schaffen ohne Waffen“). Ja, ich hätte mir auch gewünscht, Putin hätte weniger Lust auf Kriegführung und menschenverachtende Brutalität, aber da will ein skrupelloser Machtmensch ein Großrussland erzwingen, egal auf wessen Kosten. Wie wollt Ihr den denn stoppen? Oder wollt Ihr ihn belohnen, nur damit Ihr Euren Frieden habt? Andere Diktatoren schauen genau hin!

Soweit für heute.

W. R.

Zu Punkt 3 ein aktueller Nachtrag: Zwei prominente und politisch aktive Frauen haben einen Offenen Brief an Bundeskanzler Scholz geschickt und Verhandlungen statt Waffenlieferungen gefordert. Ts, ts, ts… Im Kölner Stadt-Anzeiger vom 14.02.23 schreibt dazu Heribert Münkler eine Kritik, die diesen Brief und seine Argumentation auf sachkundiger Basis in Grund und Boden stampft. Und kurz darauf meldet sich auch noch eine bekannte Theologin zu Wort und fordert auch ein Ende der Waffenlieferungen plus sofortige Verhandlungen.

Jo, mei! Darauf schrieb ich am 19.02. einen Leserbrief:

„Alle diese pazifistischen Wortmeldungen entspringen sicherlich ehrenwerten Gefühlen, doch geben sie keine rationalen Antworten auf realpolitische Fragen. So der ansonsten von mir sehr geschätzte Herr Precht nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges, oder später andere hochintelligente Menschen bis hin zu Wagenknecht und Schwarzer… Es wird zwar von der „hohen Kunst der Diplomatie“ gesprochen, auf die statt auf Militär gesetzt werden sollte, doch an diplomatischen Bemühungen hat es vor dem Krieg nicht gefehlt. Ich habe die Bilder noch vor Augen: Macron und Scholz mussten an einem gefühlt kilometerlangen Tisch Putin auf Rufweite gegenübersitzen. Das erinnert an die diplomatischen Aktivitäten 1938, als Politiker sich bemühten, Hitler vom Einfall in die Tschechoslowakei abzuhalten. Bekanntlich konnte damals der Friede nicht bewahrt werden, weil ein Hauptakteur nicht wollte. Und jetzt? Der Hauptakteur hat sich selbst in eine Lage manövriert, aus der er nur mit extremer Gewaltanwendung hinauskommen könnte — sofern die Ukraine an Unterstützung verliert. Übrigens: Wer von der Geschichte lernen möchte, mag sich das Schicksal der Tschechoslowakei 1938/39 anschauen. Wer bitte möchte der Ukraine Ähnliches zumuten — nur „um des lieben Friedens“ willen, der auch für die Ukraine Unterwerfung und Gewaltherrschaft bedeuten würde?“


Das geht in die Geschichte ein

DAS Jahr 2022 neigt sich dem Ende zu, und wir sind sicher, dass man sagen kann: Dieses Jahr wird in die Geschichte eingehen.

Wir machen hier jetzt keinen Jahresrückblick, aber zumindest das Datum 24. Februar fällt uns sofort ein. Das war der Tag, an dem Möchtegern-Eroberer-Zar Wladimir Putin einen unnötigen und ungerechtfertigten Krieg begann, indem er in das Nachbarland Ukraine einmarschierte und glaubte, mit Propagandalügen und vielen russischsprachigen Sympathisanten im angegriffenen Land einen schnellen Sieg einfahren zu können.

Doch es kam anders, denn die „ruhmreiche Rote Armee“ war offenbar längst Vergangenheit. Putin selbst lebt ja in seiner Gedankenwelt in einer Vergangenheit, die längst vorbei ist, ihm aber als Orientierungshorizont dient. Deshalb hat er im Jahr 2021 und schon davor in öffentlichen Verlautbarungen sehr stark auf Geschichte zurückgegriffen. In seiner Sicht war die Annexion der Krim (2014) eine „Wiedervereinigung“, und die beabsichtigte Eroberung der Ukraine die Zerschlagung eines Un-Staates, den es in seiner Sicht nicht geben durfte (erst recht nicht nach der politischen Wende hin zu mehr Demokratie). Die Ukraine, hieß es, sei immer Teil Russlands gewesen. Doch tatsächlich ist diese Interpretation historischer Verhältnisse umstritten, denn aus den Macht- und Abhängigkeitsverhältnissen im Mittelalter (Kiewer Rus) lassen sich nicht so einfach ethnische oder territoriale Zugehörigkeiten für die heutige Welt ableiten.

Wie auch immer, man kann ja in Allem immer etwas Anderes sehen und einen Vorgang der Geschichte anders interpretieren, als er nach allgemeingültigen Kriterien beurteilt wird. Welche „historische Wahrheit“ sich durchsetzt und allgemein anerkannt wird, ist manchmal eine Machtfrage.

Aber Macht allein kann auf Dauer nicht garantieren, dass krasse Verleugnung und Verfälschung von Geschichte nicht doch erkannt und publik gemacht wird.

Als nach Stalins Tod (1953) Nikita Chruschtschow eine Teil-Entstalinisierung begann und von Stalins Verbrechen sprach (1956), da brach für stalintreue Kommunisten nicht nur in der Sowjetunion eine Welt zusammen. Stalin wurde erstmals als der gesehen, der er war: Ein Massenmörder, der über Berge von Leichen hinwegging. Und doch wollten ihn Viele weiterhin als das verehrte „Väterchen Stalin“ sehen und weiter dem Personenkult huldigen, der Stalin so lange erstrahlen ließ.

Unter Putin wurde die Aufarbeitung der Vergangenheit unter Stalin nach Kräften zurückgedreht: Die Arbeit einer Organisation namens „Memorial“, die Verbrechen der Stalin-Ära untersucht, wurde zunehmend behindert, schließlich ganz verboten. Warum? Das könnt Ihr Euch selbst denken.*

Und was hat Putin in diesem Jahr erreicht? Zwei Dinge: 1. Er hat in einer Fehleinschätzung der Realität sein Militär vor den Augen der Welt in eine Blamage geführt, die den Nimbus einer „siegreichen Sowjetarmee“ vergessen lässt. 2. Er hat die Ukraine, eine angeblich nicht-existierende Nation, zu patriotischen Widerstand gedrängt und sie in kurzer Zeit zu einer wirklichen Nation zusammenwachsen lassen.

Zum konstituierenden Mythos der ukrainischen Nation wird in Zukunft gehören, dass sie dem übermächtigen Nachbarn die Stirn geboten hat, der sie vernichten wollte. Damit hat Putin moralisch verloren.** Und dabei haben wir noch nicht einmal von Putins moralfreier, unmenschlicher Kriegführung gesprochen.

Zu letztem Punkt muss ich darauf aufmerksam machen: Die Welt, oder die Weltgemeinschaft, darf nicht zulassen, dass Putins Verhalten der neue globale Standard bei Konflikten wird. Sie darf nicht hinnehmen, dass ein Machthaber willkürlich einen Krieg vom Zaun bricht und, mehr noch, diesen Krieg mit zahllosen Kriegsverbrechen führt. Wenn die Gründung der UN damals Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg zog, dann ist es dringend nötig, Lehren aus den Kriegen Putins zu ziehen und eine Weltordnung zu etablieren, die als Konsequenz nicht nur Putins Regime verurteilt, sondern auch den Angriffskrieg als solchen erneut ächtet – wie das schon in den Nürnberger Prozessen gegen das Nazi-Regime geschah.

Moralisch ist das keine Frage, politisch muss es durchsetzbar sein und auch durchgesetzt werden. Und wenn es nicht anders geht, dann muss Putins Russland eben eine Niederlage einstecken und zum Frieden genötigt werden. Wie sonst, bitte schön, soll denn diese Welt ein Stück friedlicher werden? Wir haben außerdem noch andere Probleme zu lösen, von denen leider Putins Zaren-Nostalgie die Welt ablenkt. Das kommt noch zusätzlich auf sein Konto: Statt zum Fortschritt im Sinne der Menschheit beizutragen, verursacht er Chaos und Rückschritt. Damit ist seine Rolle in der Geschichte auf jeden Fall schon negativ vorgemerkt.

S. R.

P.S. Die Verbrechen Stalins betrafen die Ukraine unmittelbar: Er ließ große Mengen Getreide beschlagnahmen und ins Ausland verkaufen, um Devisen für den geplanten Aufbau der Schwerindustrie einzunehmen. Als Folge verhungerten mehrere Millionen Menschen nicht nur in der Ukraine, wo dieses Verbrechen „Holodomor“ genannt wird. Ein Denkmal in Mariupol, das seit 2004 daran erinnerte, ließen die russischen Besatzer im Oktober abreißen — auch hier zeigt sich wieder der Kampf um die Deutung der Geschichte… Schon in der Sowjetunion wurde das Gedenken an den Holodomor unterdrückt.

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*mehr zu Memorial: Memorial (Menschenrechtsorganisation) – Wikipedia

** Hätte Putin sich nicht nur mit dem historischen Großrussland, sondern auch näher mit dem Zweiten Weltkrieg in Westeuropa befasst, dann wüsste er, wie Hitlers Bombenkrieg gegen England dort zum Mythos (The Blitz) des Widerstands- und Überlebenswillen erkoren wurde, die Nation stolz machte und so zum Durchhalten animierte.

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Nachtrag am 12.12.2022: Kaum war der obige Blog-Beitrag online gegangen, da sagte Putin seine übliche große Pressekonferenz zum Jahresende ab, die heute stattfinden sollte. Man könnte da einen Zusammenhang sehen, muss man aber nicht. So verhält es sich auch mit der einen oder anderen „historischen Wahrheit“, die vielleicht nur eine kühne Hypothese ohne Belege ist, aber trotzdem Gläubige findet — weil manche Leute eben einfach glauben wollen, was ihnen so schön ins Bild zu passen scheint. Ein Beispiel, das wir alle kennen: Donald Trumps Lüge von der „gestohlenen Wahl“, die noch immer bei vielen US-Bürgern verfängt.

Dieser Tage gab es eine große Polizei-Aktion gegen sogenannte Reichsbürger. Das sind Leute, die daran glauben wollen, dass dieser Staat keine Legitimation habe und das Deutsche Reich seit 1945 de jure weiter bestehe. Diese verrückt erscheinende Vorstellung könnte man als witzige Kabarett-Nummer verstehen, und so verstand ich sie, als ich in den Nuller-Jahren zum ersten Mal davon hörte. Inzwischen ist bekannt, dass viele Leute Gefallen an dieser Vorstellung gefunden haben und — das ist der Knackpunkt — ernsthaft glauben, mit dieser gedanklichen Konstruktion real Politik machen zu können.

Inzwischen haben diese Leute gemerkt, dass sie damit in der realen Politik keinen Blumentopf gewinnen können. Einige von ihnen wollen trotzdem nicht davon lassen und verlegen sich auf verschwörerische Umtriebe gegen diesen Staat, den sie mit oder ohne „Reichsbürgertum“ pauschal ablehnen. Konkret: Einige gehen so weit, dass sie reale Verschwörungen zum Sturz der Regierung und des demokratischen Systems planen, Waffen horten, „Feindeslisten“ schreiben, Einsatzpläne für den „Tag X“ ausarbeiten und sich in eine Machtübernahme nicht nur hineinträumen, sondern sie mit gewaltbereiten Leuten real in Szene setzen wollen.

Spätestens da muss auch ein demokratischer und im Prinzip toleranter Staat eingreifen. Wäre unser Staat ein autoritäres System, dann wären diese Möchtegern-Putschisten schon lange im Vorfeld verhaftet worden. In einem Staat wie z.B. dem gegenwärtigen Russland wären sie längst im Arbeitslager inhaftiert.

Wer unser demokratisches System erst gar nicht verstanden hat, der weiß auch wenig von den Grundwerten der Demokratie und läuft daher z.B. in einer Demo der Pegida oder der Verquerdenker mit. Da entblödeten sich fehlinformierte Menschen nicht, Schilder hochzuhalten, die von einer „Merkel-Diktatur“ kündeten. Auch das wäre allenfalls als Kabarett-Witz zu gebrauchen, wenn es diese Leute nicht tatsächlich ernst meinten.

Da werden Leute, die argumentieren wollen, von solchen Demonstranten niedergebrüllt — denn „man weiß“ ja längst, dass die alle bezahlte Marionetten des Systems sind und dass die Medien gleichgeschaltet und aus dem Kanzleramt gesteuert sind.

Das wiederum fand ich ausgesprochen lustig: Diese Leute, die sich von „Russia Today“ und anderen, von der Putin-Regierung finanzierten Kanälen bestens „informiert“ fühlten, beschrieben ein Bild, das eher auf Russland passte, aber von Putin als Bild hiesiger Verhältnisse in die Köpfe unserer Bevölkerung gesetzt werden sollte. Man will die Leute hier verunsichern, indem man frech die Tatsachen auf den Kopf stellt.

Dieses Propaganda-Schema findet man heute auch in den russischen Verlautbarungen über den Krieg gegen die Ukraine. Aber in einem Krieg wundert das nicht. Und, messerscharf geschlossen: Putin sah sich anscheinend schon vor 2022 im Krieg mit den westlichen Demokratien. Warum sonst finanzierte er soviel propagandistische Unterwanderung, warum finanzierte er schon lange viele rechtsradikale Parteien und Gruppierungen im Westen?

Wer verstehen will, wie Russland sich selbst sieht, und welche Erzählung über die Geschichte dieses Selbstbild begründet, der lese, was Orlando Figes in seinem Buch Eine russische Geschichte dazu schreibt. Seit Zar Iwan IV. dem Schrecklichen wird ein Mythos von der heiligen russischen Nation und dem „Sammeln russischer Erde“ gepflegt und Großrussland beschworen, Moskau als „Drittes Rom“ und Haupt der russisch-orthodoxen Kirche etabliert und in den Köpfen verankert.

Kein Wunder also, dass Putin den Schulterschluss mit der orthodoxen Kirche vollzogen hat (Wir erinnern uns z.B. an die Protestaktion von Pussy Riot in einer Moskauer Kirche 2012, für die die Teilnehmerinnen zu mehrjährigen Haftstrafen im Arbeitslager verurteilt wurden), kein Wunder auch, dass Patriarch Kyrill Putins Krieg gegen die Ukraine (auch aus kirchenpolitischen Gründen) unterstützt.

Und das Gros der Bevölkerung Russlands folgt der mythisch überhöhten Geschichtserzählung, die den Traum eines wiederhergestellten Großrusslands als historische Sendung preist — und dabei natürlich vom Selbstbestimmungsrecht der Völker oder gar von Demokratie nichts wissen will.

Wen überrascht da noch, dass andere Autokraten ebenfalls nostalgische Großreich-Träume wieder aufwärmen, z.B. Erdogan (Osmanisches Reich) oder Orban (ungarische Minderheiten in Nachbarstaaten „heim ins Reich“ holen). Wen überrascht, dass solche Autokraten auf Machtpolitik und Drohgebärden setzen und machomäßig Stärke zeigen — anstatt den Menschen diesseits und jenseits der Grenzen Ruhe, Frieden, Handel und Verbesserung ihres Lebensstandards zu ermöglichen durch friedlichen Austausch und Verständigung.

Die rückwärts orientierten Machthaber-Träume von Grenzverschiebungen und Annexionen schüren Konflikte, führen zu Unfrieden, betonen Trennendes zwischen den Menschen statt das Gemeinsame. Grenzen auf politischen Landkarten sind — so gesehen — etwas Gestriges, Antiquiertes, und sollten in unserer Zeit keine so große Rolle mehr spielen. Denn tatsächlich wird unsere Welt mit 8 Milliarden Menschen immer mehr zum „globalen Dorf“, in dem niemand mehr so tun kann, als ginge ihn/sie die anderen Menschen nichts an.